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11 0 20/63 - Landgericht (-)
Entscheidungsdatum: 02.08.1963
Aktenzeichen: 11 0 20/63
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Landgericht Duisburg
Abteilung: -

Leitsatz:

Die Regeln für die Abladetiefe auf der mittelrheinischen Gebirgsstrecke, festgestellt in Empfehlungen des Vereins zur Wahrung der Rheinschifffahrtsinteressen e. V., sind kraft Schifffahrtsbrauchs als verbindlich zu behandeln, da sie kollektiv beachtet werden und als bewährt anzusehen sind. Bei der Feststellung der Abladetiefe nach Maligabe des Kauber Pegels kommt es jedoch nur auf den tatsächlichen Pegelstand im Zeitpunkt der Gebirgsfahrt an. Ferner ist nicht die „mittlere" Abladung, sondern der tiefste Punkt des Schiffes entscheidend.

 

Urteil des Landgerichts Duisburg

vom 02. 08. 1963

11 0 20/63


Zum Tatbestand:

Der Beklagte hatte den 987 t großen Schleppkahn des holländischen Klägers u. a. für eine Reise von Rotterdam nach Waldhof unter Miete genommen. Wegen des zur Ladezeit bereits herrschenden Kleinwassers hatte der Kahn nur gewichtsmäßig halbe Last und eine mittlere Abladung (Eintauchtiefe) von rechts 1,55 m (252 - 97), links 1,53 (252 - 99). In Salzig traf der Kahn im Schleppverband am 12. 10. 1962 gegen 17 Uhr ein. Nach Schlepperwechsel sollte der Schleppzug sofort weiterfahren und die Gebirgsstrecke überwinden. Der Kauber Pegel hatte für den 12. Oktober morgens 5 Uhr einen Wasserstand von 0,90 m angezeigt. Ebenso wie die anderen Rheinwasserstände zeigte er fallende Tendenz, und zwar vom 8. - 12. 10. 1962: 94, 91, 90, 90, 90.
Zwischen den Parteien kam es zum Streit, weil sich der Kläger - zugleich Eigner, Vermieter und Schiffer - beharrlich weigerte, die Reise ohne Leichterung fortzusetzen, aus dem Schleppverband ausscherte und in Salzig liegen blieb, bis der Beklagte ihn schließlich nach mehreren Tagen leichterte und nach Waldhof schleppen ließ. Inzwischen war der Kauber Pegel weiter gefallen (13. - 15. Oktober: 85, 85, 80).
Gegenüber dem Vorwurf einer Verletzung des Mietvertrages und der Ansicht des Beklagten, der eigenen Verantwortlichkeit eines Schiffsführers seien durch die Empfehlungen des Vereins zur Wahrung der Rheinschifffahrtsinteressen e. V. (VzW) Grenzen gesetzt, so dass folglich die Fahrt des Schiffes (Klasse bis 1500 t) nach dem maßgebenden Kauber Pegelstand von 5 Uhr morgens noch mit einer Eintauchtiefe von 1,60 m (70 cm -I- 90 Kauber Pegel) erlaubt gewesen sei, erwidert der Kläger, er halte sich an die alte Faustregel für das Binger Loch: „Kauber-Pegel unter 100 + 65cm". Hiernach sei von einer erlaubten Eintauchtiefe von 1,55 m auszugehen. Zu berücksichtigen sei ferner, dass der Kahn um 2 cm hinterlastig gewesen sei und gegenüber der Leereiche eine Differenz von + 3 cm aufweise. Der Klage auf Zahlung des Mietzinsrestes, den der Beklagte wegen der Mehraufwendungen im Zusammenhang mit der Weigerung des Klägers, die Reise ohne Leichterung fortzusetzen, einbehalten hat, ist stattgegeben worden.

Aus den Entscheidungsgründen:

Es ist davon auszugehen, dass ein Schiffsführer die „Sorgfalt eines ordentlichen Schiffers" zu beobachten hat, wo er sich auch immer befinden mag. Dieser Maßstab ist in der Natur der Sache begründet und gilt unabhängig von der Schiffsflagge und von der Zugehörigkeit der befahrenen Strecke zu diesem oder jenem Staatsverband. Die Formel von der "Sorgfalt eines ordentlichen Schiffers" ist freilich von unbestimmtem Inhalt. Der Maßstab ist darum aber kein subjektiver. Ermessensspielräume dürfen nicht willkürlich ausgefüllt werden.
Mit jener Formel und dem Grundsatz von der Eigenverantwortlichkeit des Schiffers ist es durchaus verträglich, dass für bestimmte Gelegenheiten engere Verhaltensnormen aufgestellt werden. An einer Engstelle wie der mittelrheinischen Gebirgsstrecke ist es mit dem Massenverkehr und den auf dem Spiele stehenden vielseitigen Interessen unverträglich, die Durchfahrtsmöglichkeit etwa konkret, individuell zu prüfen. Jedes Probieren, Loten, Peilen während der Fahrt ist schlechthin ausgeschlossen, schon gar bei einem Kahn, der sich im Schleppverbande befindet. Die Frage der Durchfahrtsmöglichkeit kann nicht anders als „schematisch" geregelt werden, und zwar nur unter Bezugnahme auf den Kauber Pegel.
Der Rechtsstreit geht im Kerne darum, ob der Kläger an einer alten Faustregel in ihrer ängstlichen Fassung festhalten darf oder ob er sich neuen Faustregeln unterwerfen muss mit der Wirkung, dass das Festhalten am Alten schuldhaft wird.
Es geht hierbei nicht um eine Frage der „Rechtsetzung", sondern allein um das Problem der Entstehung eines „Schifffahrtsbrauchs" und der Verbindlichkeit eines solchen. Wie für einen Kaufmann der Handelsbrauch eine Verhaltensweise verbindlich- regelt, hat für den Schiffer der Schifffahrtsbrauch als Richtlinie zu gelten.
Die alten Faustregeln, die untereinander Abweichungen bis zu 5 cm aufweisen (+ 65 oder + 70 auf Kauber Pegel), sind äußerst grob und wenig differenziert. Sie unterscheiden nicht nach der Schiffsgröße und machen keinen Unterschied zwischen mittlerer und größter Abladung. Es spiegeln sich darin Schiffstypen und Schifffahrtsverhältnisse wieder, die dem Querschnitt des heutigen Verkehrs nicht mehr entsprechen.
Schifffahrtssachverständige haben im Zusammenwirken mit öffentlichen Stellen auf Grund der vorliegenden langjährigen Erfahrungen mit der Gebirgsstrecke die Durchfahrtsmöglichkeiten begutachtet. Das Ergebnis hat den schriftlichen (tabellarischen) Niederschlag gefunden in Empfehlungen des Vereins zur Wahrung der Rheinschifffahrtsinteressen e. V., u. a. in dessen Rundschreiben Nr. 125 vom 1. 10. 1959, später ergänzt (verschärft) für Sonderfahrzeuge durch Rundschreiben vom 19. 10. 1962. (Schreibfehler: Es mut richtig heißen:... später ergänzt [verschärft] für Sonderfahrzeuge durch Rundschreiben Nr. 159 vom 30. 11. 1962; die Redaktion).
Diese Empfehlungen stellen im Grunde einen Kompromiss zwischen den Interessen der Schifffahrfsbeteiligten dar.
Die Kompromissnatur wertet die Empfehlungen des VzW nicht ab. Die Interessenkoordinierung bietet im Gegenteil eine Gewähr dafür, da alle Belange gewürdigt worden sind.
Die Tabelle enthält hiernach einen Niederschlag und eine Zusammenfassung gesicherter Erfahrungswerte. Die Schifferbörse hält sie für Schifffahrfsbrauch, obwohl sie am 12. Oktober 1961 erst 3 Jahre alt war.
Die Kammer tritt dieser Auffassung bei. Der Handelsbrauchnatur sieht nicht der Umstand entgegen, dass nur deutsche Stellen an der Interessenkoordinierung beteiligt gewesen sind. Da es um die Verhaltensweise gegenüber Schwierigkeiten an einer bestimmten Stelle geht, muss logisch der Ortsgebrauch entscheiden, insbesondere die Erfahrung der örtlichen deutschen Wasserpolizei, eine Frage, die mit der Internationalisierung des Verkehrs nichts zu tun hat. Für den Schifffahrtsbrauch an "dieser" Stelle entscheidet der Ortsgebrauch. Die Kürze der verstrichenen Zeit ist ebenfalls unerheblich. Ein Schifffahrtsbrauch kann sehr schnell entstehen. Entscheidend ist, ob die Regeln kollektiv beachtet werden und als "bewährt" angesehen sind. Beides ist für die Empfehlungen zu bejahen. Diese sind hiernach kraft Schifffahrtsbrauchs als verbindlich zu behandeln.
Die Weigerung des Klägers, von der alten Faustregel (+ 65 auf Kaub unter 100) abzugehen, war nach alledem im Prinzip dem neueren Schifffahrtsbrauch widersprechend und unzulässig. Der Kläger muss sich nach der Tabelle vom 1. 10. 1959 behandeln lassen. Diese sieht vor, dass ein 1500-f-Schiff bei einem Pegelstande zwischen 1 m und 0,76 m eine Abladung (= Eintauchtiefe) von 0,70 m auf Kauber Pegel haben darf.

Gleichwohl sind auch unter Zugrundelegung der Tabelle zwei Einwendungen des Klägers begründet:

1.) Wenn schon der Kauber Pegel Bezugspunkt sein soll, so kann er es nur unter der Einschränkung sein, dass Pegelverhältnisse und Schiffsverhältnisse deckungsgleich sind. Die Tabelle hat denkgesetzlich zur Voraussetzung, dass der Kahn sich bei der Durchsage des Pegelstandes (5.00 Uhr morgens) auch wirklich „am Pegel" befindet oder, - umgekehrt ausgedrückt -, dass der Pegelstand sich noch nicht verschlechtert haben wird, wenn das Schiff Kaub erreicht.
Hierin liegt aber eine Ungewissheit dann, wenn die Serie der zeitlich vorhergehenden Pegelstände fallende Tendenz anzeigt. Für den Schiffsführer, der von Salzig aus ohne Unterbrechung zu Berg fahren muss, ergibt sich daraus die Notwendigkeit, mit Bezug auf den Tabellenfestpunkt (Kaub) zusätzlich noch eine Prognose zu stellen, freilich eine solche, die bloß maximal 12 Stunden umfassen wird, die aber andererseits zu verheerenden Fehlschlüssen führen kann. Eine derartige Prognose muss dem Schiffer zugestanden werden. In diesem Punkte ist der Beklagte im Unrecht.
Tatsächlich zeigte der Kauber Pegel am 13. 10. 1962, morgens 5.00 Uhr, einen Wasserstand von nur 0,85 m an. An der Berechnung, welche der Beklagte aufmacht, sind also 5 cm abzuziehen. Wenn möglicherweise am Abend des 12. 10. 1962 nur erst ein Stand „zwischen" 0,90 und 0,85 m erreicht gewesen sein sollte, so wäre ein Fehlschluss des Schiffers nach der vorsichtigeren Seite hin (0,85) in diesen engen Grenzen keinesfalls schuldhaft. Wenn der Schiffer sich grundsätzlich auf den Boden der Tabelle stellt, so gilt für die ihm zufallende Prognose der Grundsatz, dass „Vorsicht" noch nicht „Schuld" ist.
2.) Nach Ziffer 3 der Empfehlungen vom 1. 10. 1959 ist für die Beurteilung der Durchfahrtsmöglichkeit nicht die „mittlere" Abladung, sondern der tiefste Punkte entscheidend. Nach der Eichaufnahme vom 19. 10. 1962 in St. Goarshausen ist der Kahn um 2 cm hinterlastig, gewesen gegenüber mittschiffs. Die größte Abladung am Heck betrug 1,56 m.
Wenn demgemäß von einem Pegelstand effektiv 0,85 m ausgegangen wird, so hätte die nach der Tabelle (+ 70) zulässige Abladung 1,55 m betragen. In diesem Falle wäre die Weigerung des Schiffers also nach der Tabelle gerade noch gerechtfertigt gewesen. Sollte von einem Pegelzwischenwert zwischen 0,90 und 0,85 auszugehen sein, so hätte er zwar um einige Zentimeter innerhalb der Tabellenwerte gelegen. Seine Weigerung wäre aber wegen der Unsicherheit der Prognose bezüglich der fallenden Tendenz nicht schuldhaft.

 

ZfB 1963, S. 426

Die Regeln für die Abladetiefe auf der mittelrheinischen Gebirgsstrecke, festgestellt in Empfehlungen des Vereins zur Wahrung der Rheinschifffahrtsinteressen e. V., sind kraft Schifffahrtsbrauchs als verbindlich zu behandeln, da sie kollektiv beachtet werden und als bewährt anzusehen sind.
Bei der Feststellung der Abladetiefe nach Maligabe des Kauber Pegels kommt es jedoch nur auf den tatsächlichen Pegelstand im Zeitpunkt der Gebirgsfahrt an. Ferner ist nicht die „mittlere" Abladung, sondern der tiefste Punkt des Schiffes entscheidend.

Urteil des Landgerichts Duisburg vom 2. B. 1963 - 11 0 20/63 - rechtskräftig.


Zu dem Urteil des LG Duisburg vom 2. B. 1963:

Das vorstehende Urteil des Landgerichts Duisburg ist von weit reichender Bedeutung für die gesamte Schifffahrt. Es trifft bemerkenswerte Feststellungen über die rechtliche Wirkung der vom Verein zur Wahrung der Rheinschifffahrtsinteressen e. V. (VzW) herausgegebenen Empfehlungen für die Wahl der Abladetiefe. Ferner gibt es eine Klarstellung und sinnvolle Auslegung der VzW-Rundschreiben.
Die wichtigste Feststellung ist, dass die Regeln für die Abladetiefe im Gebirge als Schifffahrtsbrauch anerkannt werden. Sie müssen also beachtet werden. Wer ihre Verbindlichkeit bestreitet und nach alten unvollkommenen Faustregeln handelt, hat mit dem Vorwurf schuldhaften Verhaltens zu rechnen.
Mit aller Deutlichkeit wird aber auch in den Entscheidungsgründen dargestellt, dass die Feststellung des Schifffahrtsbrauchs nicht zu Irrtümern verleiten darf. Die „Sorgfalt eines ordentlichen Schiffers" im Sinne des § 4 Rhein Sch PVO bleibt oberster Grundsatz. Der Schiffsführer behält die echte und wohlverstandene Entscheidungsbefugnis. Für seine Beurteilung der zulässigen Abladung ist die Empfehlung des VzW eine zuverlässige Grundlage. Hierauf aufbauend hat er die verschiedenartigen Faktoren zu berücksichtigen. Zunächst muss er die Tendenz der Pegelstände beobachten, dann die Eigenarten seines Schiffes in Betracht ziehen. Als Ergebnis wird er finden, dass die „Regeln" für die Abladung sich bewähren.
So und nicht anders waren und sind die entsprechenden Empfehlungen des VzW zu verstehen. Man brauchte sie nur in ihrem vollen Wortlaut zu lesen und durfte nicht den Blick allein auf die Tabelle richten. Dann wäre z. B. stets außer Diskussion geblieben, da) es bei der Bemessung der Abladung für die abendliche Fahrt durch das Binger Loch nicht auf den Kauber Pegel von 5 Uhr früh ankommt, dass der tiefste Punkt des Schiffes und nicht die „mittlere" Abladung entscheidend ist und vor allem auch, dass die angegebenen Werte „Höchstmaße" sind.