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3 U 1/98 BSch - Oberlandesgericht (Schiffahrtsobergericht)
Entscheidungsdatum: 27.11.1998
Aktenzeichen: 3 U 1/98 BSch
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Oberlandesgericht Köln
Abteilung: Schiffahrtsobergericht

Leitsätze:

1) Ist eine Dispache im Auftrag des Schiffsführers von einem nicht als Dispacheur allgemein vereidigten Experten aufgestellt worden und haben die anderen Beteiligten trotz des ausdrücklichen Hinweises auf die Möglichkeit, die Aufstellung der Dispache durch einen öffentlich bestellten Dispacheur verlangen zu können, eine solche Forderung nicht erhoben, verstößt deren spätere Berufung auf eine Unzulässigkeit der Dispache gegen Treu und Glauben.

2) Ob ein Fall der großen Haverei vorliegt, ergibt sich nicht schon aus der Unterzeichnung von Haverei-Reversen. Diese begründet eine persönliche Verpflichtung des Empfängers geretteter Güter zur Entrichtung des lediglich auf ihm selbst lastenden Havarie - grosse - Beitrags. Außerdem wird durch die Unterzeichnung des Reverses die Kenntnis des Empfängers im Zeitpunkt der Annahme der Güter von deren Beitragspflicht urkundlich festgehalten.

3) Bei auf Grund festgefahrenen Schiffen kommt es auf den Einzelfall an, ob die zum Wiederflottmachen getroffenen Maßnahmen große Haverei sind. Für die Beurteilung der Situation ist entscheidend, ob der Schiffsführer aus seiner Sicht bei Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen Schiffsführers der Auffassung sein kann, es handele sich um eine gemeinsame Gefahr für Schiff und Ladung.

4) Regel III der Rheinregeln IVR enthält eine zulässige Freizeichnung für normales Verschulden. Lediglich eine Freizeichnung wegen Verletzung sog. Kardinalpflichten wäre nach deutschem Recht unzulässig.

 

Urteil des Oberlandesgerichts (Schiffahrtsobergerichts) Köln

vom 27.11.1998

3 U 1/98 BSch
(Schiffahrtsgericht St. Goar)

Zum Tatbestand:

Die Klägerin ist Empfängerin eine Ladung Drahtrollen, welche der Beklagte mit dem ihm gehörenden GMS M2 auf der Mosel transportiert hat. Auf dieser Reise kam das Schiff angeblich infolge eines Ruderversagens fest. Der Beklagte veranlaßte ein Losturnen des Schiffes und ließ es bis zur nächsten talwärtigen Schleuse (Müden) schleppen. Die Kosten hierfür ließ der Beklagte durch den Dispacheur S dispachieren. Die Parteien haben für das Dispachebestätigungsverfahren sowie für das Widerspruchsverfahren die Zuständigkeit des Schiffahrtsgerichts St. Goar vereinbart.
Die Klägerin trägt vor, der Dispacheur S sei zur Aufmachung der Dispache nicht befugt gewesen. Es sei nicht die Gewähr gegeben, daß er sein Amt unparteiisch ausgeübt habe. Wegen der Namens-gleichheit mit dem Beklagten sei davon auszugehen, daß er mit diesem verwandt sei. Darüber hinaus sei er Vorstandsmitglied der hinter dem Beklagten stehenden Versicherung. Es habe auch kein Fall der großen Haverei vorgelegen. Eine gemeinsame Gefahr für Schiff und Ladung habe nicht bestanden. Selbst ein Untergang des Schiffes sei der Ladung nicht schädlich gewesen, da diese ohne Schaden hätte naß werden können. Schließlich habe der Beklagte auch den Ruderausfall zu vertreten. Den für sein fehlendes Verschulden notwendigen Entlastungsbeweis habe er nicht geführt.
Die Klägerin beantragt, ihren Widerspruch gegen die Dispache des Dispacheurs für begründet zu erklären. Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen. Er trägt vor, familienrechtliche Beziehungen zu dem Dispacheur S bestünden nicht. Es handele sich um einen erfahrenen Fachmann auf dem Gebiet der Schiffahrt, der jährlich mehrere Dispachen erstelle. Die nach den Regeln der IVR aufgemachte Dispache sei der Klägerin zeitnah zugesandt worden mit der Aufforderung, sich zu melden, falls eine Dispachierung durch einen vereidigten Dispacheur oder eine zusätzliche Prüfung durch die IVR gewünscht werde. Dies sei nicht erfolgt, vielmehr habe die Klägern lediglich geltend gemacht, ein Fall der Havarie-Grosse habe nicht vorgelegen. Entgegen der Auffassung der Klägerin habe aber eine unmittelbar drohende Gefahr für Schiff und Ladung bestanden. Eine solche Gefahr sei bei einer Festfahrung immer gegeben. Darüber hinaus habe die Klägerin auch den IVRRevers unterzeichnet und damit ihre Verpflichtung, als Ladung zur HavarieGrosse beizutragen, anerkannt. Schließlich treffe ihn auch kein Verschulden an der Festfahrung.
Das Schiffahrtsgericht hat den Widerspruch der Klägerin gegen die Dispache für begründet erklärt. Die Berufung hatte Erfolg.

Aus den Entscheidungsgründen:

"Entgegen der Auffassung des Schifffahrtsgerichts ist der Widerspruch der Klägerin gegen die Dispache des Dispacheurs S nicht begründet.
Die Dispache ist nicht im Hinblick auf die Person des Experten unzulässig. Das Schiffahrtsgericht weist zu Recht darauf hin, dass die Dispache grundsätzlich auch von dem Schiffer selbst aufgestellt werden kann, § 87 Abs. 1 BSchG. Wenn der Schiffsführer allerdings von sich aus oder auf Verlangen eines Beteiligten gern. § 87 Abs. 2 S. 1 BSchG einen Dispacheur hinzuziehen will, muss es sich um einen für Havereifälle ein für allemal bestellten Dispacheur, also einen allgemein vereidigten Sachverständigen, handeln (vgl. Vortisch/Bemm, Binnenschiff fahrtsrecht, 4. Aufl., § 87 Rdn. 7, 8; G. Bemm, Rechtsprobleme der Großen Haverei und des Dispacheverfahrens, S. 104). Die Beteiligten können sich aber auch auf andere Personen einigen, z. B. einen privaten Haveriekommissar (Vortisch/Bemm a.a.O., Rdn. 8 und G. Bemm a.a.O., S. 105). Eine solche Absprache haben die Parteien hier zwar nicht getroffen. Der Senat hält es aber gleichwohl für zulässig, dass der Schiffsführer, der ja die Dispache nach § 87 Abs. 1 BSchG selbst aufstellen darf, sich hierbei eines nicht als Dispacheur allgemein vereidigten Experten als Erfüllungsgehilfen bedient; denn den anderen Beteiligten ist es nach § 87 Abs. 2 BSchG unbenommen, die Aufstellung der Dispache durch einen öffentlich bestellten Dispacheur zu verlangen. Hierauf hat die Versicherung des Beklagten die Klägerin in ihrem Schreiben vom 27.10.1995 ausdrücklich hingewiesen. Die Klägerin hat aber eine entsprechende Forderung nicht erhoben, sondern erst im Dispacheverfahren die Unzulässigkeit der Dispache im Hinblick auf die Person des Experten S geltend gemacht. In dem Vorangegangenen Schriftverkehr hatte sie sich stets nur darauf berufen, dass der Unfall auf ein Versagen des Schiffsführers zurückzuführen sei und überhaupt kein Fall der großen Haverei vorliege. Unter diesen Umständen verstößt die Berufung auf eine Unzulässigkeit der Dispache wegen der mangelnden öffentlichen Bestellung des Experten S und dessen Verbindung zu der hinter dem Beklagten stehenden Versicherung jedenfalls gegen Treu und Glauben. Ein Fall der großen Haverei liegt entgegen der Auffassung der Klägerin vor. Dies ergibt sich allerdings nicht schon daraus, dass die Klägerin mit der Unterzeichnung des Haverie-Reverses ein entsprechendes Schuldanerkenntnis abgegeben hätte. Nach der Rechtsprechung des BGH (VersR 81, 475 f.) entspricht es nicht der allgemeinen Bedeutung derartiger Reverse, damit dem Unterzeichner den Einwand abzuschneiden, dass es an den Voraussetzungen der großen Haverei fehle oder dass der eine Vergütung fordernde Beteiligte die gemeinsame Gefahr für Schiff und Ladung schuldhaft herbeigeführt habe, zumal sich diese Punkte bei der Unterzeichnung oftmals noch in keiner Weise überschauen lassen. Vielmehr besteht die allgemeine Bedeutung der Haverie-Reverse darin, eine persönliche Verpflichtung des Empfängers geretteter Güter zur Entrichtung des lediglich auf ihm selbst lastenden Haverie-grosse-Beitrags (vgl. § 90 Abs. 1 BSchG) zu begründen; außerdem wird durch die Unterzeichnung des Reverses die Kenntnis des Empfängers im Zeitpunkt der Annahme der Güter von deren Beitragspflicht urkundlich festgehalten, was im Rahmen des § 90 Abs. 2 BSchG bedeutsam ist (so auch Vortisch/(Bemm, § 90 BSchG, Rdn. 4). Aus den von der Klägerin zitierten Fundstellen (Vor-tisch/Bemm BSchG, § 91 Rdn. 1 f. und Bemm/v. Waldstein, Rheinschiffahrts-polizeiverordnung, 3. Aufl., IVR-Regel XI Rdn. 3) ergibt sich nichts Gegenteiliges.
Der Tatbestand der großen Haverei gern. § 78 BSchG erfordert eine gemeinsame Gefahr für Schiff und Ladung. Diese liegt objektiv dann vor, wenn dem Schiff und der Ladung durch eineinheitliches Ereignis, dessen Ursache, Art und Intensität unerheblich sind, ein Schaden mindestens mittelbar droht, der nicht durch geeignete nautische Maßnahmen abgewendet werden kann (vgl. G. Bemm, a.a.O., S. 39 f.; Prüssmann/Rabe, Seehandelsrecht, 3. Aufl., HGB § 700 Anm. B 1 - 5/Vortisch/Bemm, BSchG,. §78 Rdn. 4; Bemm/v. Waldstein, Rheinschiffahrtspolizeiverordnung, IVR-Regel 1, Rdn. 2 3; RGZ 165, 167 (171 f.)). Es muss sich dabei um eine erhebliche Gefahr handeln. Nicht jedes Aufgrundgeraten des Schiffes stellt einen Havereifall dar. Es kommt vielmehr auf den Einzelfall an, ob die zum Wiederflottmachen getroffenen Maßnahmen große Haverei sind. Teilweise ist dies von der Rechtsprechung beim Festkommen von Schiffen auf Flüssen und Kanälen verneint worden (vgl. Prüssmann/Rabe a.a.O., Anm. B 2 und § 706 HGB, Anm. D 6 b; siehe auch RGZ 165 f. (174 oben)). Die von dem Beklagten aufgezeigte Gefahr, dass das Schiff an der Stelle, wo es sich festgefahren hatte, infolge von Auskolkungen des Flussgrundes sowie Sog und Wellenschlag hätte auseinanderbrechen und untergehen können, kann nach Auffassung des Senats nicht angenommen werden. Der der Entscheidung des BGH (BGHZ 2, 20) zugrundeliegende Sachverhalt war anders gelagert. Dort war ein teilweise gelöschter Kahn im Hafen auf Wall geraten und nach Zurückgehen des Wassers in zwei Stücke auseinander gebrochen. Die Gefahr des Auseinanderbrechens mag tatsächlich bestehen, wenn ein festgefahrenes Schiff teilweise oder ganz trocken fällt, weil sich dann die Druckverhältnisse gerade auch im Hinblick auf das Gewicht der Ladung ändern. Solches war im vorliegenden Fall aber nicht zu erwarten. Abzustellen war hier auf den Zeitraum bis zur Behebung des Ruderschadens durch einen Monteur. Dies hätte kurzfristig geschehen können. Der Unfall war am Abend des 9.9.1995, die Reparatur ist ausweislich der vorgelegten Rechnung vom 13.10.1995 am 11.9.1995 erfolgt. Die Mosel ist, worauf die Klägerin zutreffend hinweist, im allgemeinen ein ruhiger Fluss, der im Hinblick auf die Rufstauungen nur eine ganz geringe Fließgeschwindigkeit und einen fast gleichbleibenden Wasserstand hat. Dass zur Unfallzeit besondere Umstände vorgelegen hätten - wie z. B. Hochwasser mit starker Strömung oder Niedrigwasser mit schnell fallendem Wasserstand - ist nicht vorgetragen. Es ist somit nicht erkennbar, dass der Fluss selbst eine gemeinsame Gefahr für Ladung und Schiff erzeugt hätte, wenn dieses noch ein bis zwei Tage an der Unfallstelle liegen geblieben wäre. Dagegen lag die Gefahr einer Kollision mit einem anderen Schiff nicht fern. Unstreitig lag das 80 m lange MS M2 quer in der an der Unfallstelle ca. 100 m breiten Mosel und bildete so ein Hindernis für die Schiffahrt. Aus dieser Lage ergab sich die Gefahr einer Kollision mit der nicht fernliegenden Möglichkeit eines Wassereinbruchs und Sinkens des Schiffes. Zwar ist nicht zu verkennen, dass die die Mosel befahrenden Schiffe im allgemeinen mit Sprechfunk ausgerüstet sind und auf diese Weise vom Beklagten und den Schleusenwärtern hätten gewarnt werden können. Trotzdem kommt es, wie dem Senat aus zahlreichen Fällen bekannt ist, immer wieder zu erheblichen Kollisionen auf der Mosel, weil z. B. ein Funkgerät plötzlich wegen eines Defektes ausfällt, die Sprechfunkmitteilung aus technischen gründen schlecht verständlich ist, ein Schiffsführer den Mitteilungen über Sprechfunk nicht die erforderliche Aufmerksamkeit widmet oder unzulässigerweise auf einem anderen Kanal längere Privatgespräche führt. Eine Kollisionsgefahr ergab sich vorliegend insbesondere aus dem Umstand, dass sich der Unfall abends gegen 19.50 Uhr ereignet hatte. Es wurde also bald dunkel, und nachts ist ein im Fluss querliegendes Schiff, falls den Schiffsführer eines anderen Schiffes keine Vorwar-nung erreicht hat, für diesen schwer erkennbar. Unter diesen Umständen war die Verschleppung von MS M2 zur Schleuse Müden das Vernünftigste, was der Beklagte tun konnte. Bei der Beurteilung der Situation kommt es darauf an, ob der Schiffsführer aus seiner Sicht bei Anwendung der Sorgfalt eines ordentlichen Schiffsführers der Auffassung sein kann, es handele sich um eine gemeinsame Gefahr für Schiff und Ladung, die durch die getroffene Maßnahme beseitigt werden müsse (vgl. Prüssmann/Rabe, § 700 HGB Anm. B 1 a; Bemm/v. Waldstein, Rheinschiff fahrtspolizeiverordnung, IVR-Regel 1 Rdn. 5; Vortisch/Bemm, BSchG, § 78 Rdn. 4; G. Bemm a.a.O., S. 41). Die Sicht eines sorgfältigen Schiffsführers muss auch für die Frage maßgeblich sein, ob an der Ladung ein Schaden entstehen kann. Hier handelte es sich um Drahtrollen. Infolge eines Kontaktes mit dem Flusswasser konnten sich Schmutzteile und Rost ansetzen, was für die spätere Verarbeitung problematisch sein konnte. Anders als etwa bei einer Ladung Schrott war hier daher ein Schaden an der Ladung zu befürchten. Ob tatsächlich bei der späteren Verarbeitung Schmutzteile oder Rost hinderlich gewesen wären, ist unerheblich. Der Schiffsführer konnte und brauchte nicht zu wissen, für welche konkrete Weiterverarbeitung die Drahtrollen bestimmt waren. Nach alledem war die von dem Beklagten getroffene Maßnahme zur Abwendung einer gemeinsamen Gefahr für Schiff und Ladung geboten.
Entgegen der Auffassung des Schifffahrtsgerichts scheidet eine Heranziehung der Klägerin zu den Kosten der Bergung nicht deshalb aus, weil der Beklagte den Schiffsunfall selbst verschuldet hätte.
Für das Verhältnis der Parteien gelten unstreitig die IVR-Regeln. Nach Regel III besteht die Pflicht, zur großen Haverei beizutragen, auch dann, wenn das Ereignis, welches zum Opfer Anlaß gab, auf das Verschulden eines Beteiligten zurückzuführen ist. Insofern handelt es sich um eine zulässige Freizeichnung für normales Verschulden. Lediglich eine Freizeichnung wegen Verletzung sogenannter Kardinalpflichten wie die Vorlage eines fahr- und ladungstüchtigen Schiffes wäre nach deutschem Recht unzulässig (vgl. Bemm/v. Waldstein, Rheinschifffahrtspolizeiverordnung, Einführung Rdn. 201 und IVR-Regeln III Rdn. 1; Vortisch/Bemm, BSchG., § 79 Rdn. 9 und G. Bemm, a.a.O., S. 75, 80 f.).
Für eine anfängliche Fahr- und Ladeuntüchtigkeit sind hier keinerlei Anhaltspunkte ersichtlich. Das Schiff war ausweislich des Schiffsattests vom 12.6.1995 erst drei Monate vor dem Unfall von der SUK untersucht worden. Am 27.7.1995 war die Ruderanlage repariert worden. Dass der behauptete Fehler an der Ruderanlage schon bei Reisebeginn vorgelegen haben könnte, ist auch unwahrscheinlich, weil das Schiff sonst nicht die Fahrt zur Unfallstelle hätte bewältigen können. Ob der Beklagte bei der Steuerung in der Flussbiegung einen Fehler begangen hat oder ob er bei dem behaupteten plötzlichen Ruderausfall falsch reagiert, etwa nicht sofort auf das vom Hauptruder völlig unabhängige Notrudersystem umgeschaltet hat, ist im Hinblick auf die mit der IVR-Regel III zulässigerweise erfolgte Freizeichung für normales Verschulden unerheblich...."

Ebenfalls abrufbar unter ZfB 1999 - Nr.6 (Sammlung Seite 1741 ff.); ZfB 1999, 1741 ff.