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3 U 20/59 - Oberlandesgericht (Rheinschiffahrtsobergericht)
Entscheidungsdatum: 19.11.1959
Aktenzeichen: 3 U 20/59
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Oberlandesgericht Köln
Abteilung: Rheinschiffahrtsobergericht

Leitsatz:

Das Rheinschiffahrtsobergericht in Köln hält an seiner ständigen Rechtsprechung fest, daß gemäß einem Handelsbrauch der aus einer kontradiktorischen, vorbehaltlos unterzeichneten Schadenstaxe zu errechnende Nutzungsverlust bereits vor der Schadensbeseitigung und ohne konkrete Nachweise seines tatsächlichen Entstehens verlangt werden kann. Dieser Handelsbrauch ist weder von den ungewöhnlichen Verhältnissen in der Nachkriegszeit noch von Konjunkturschwankungen beeinflußt worden. Er gilt für die gesamte Rheinschiffahrt ohne Rücksicht auf die Flagge und ist allen erfahrenen Experten des In- und Auslands bekannt.

 

Urteil des Oberlandesgerichts-Rheinschiffahrtsobergerichts

Rheinschiffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort

vom 19.11.1959

3 U 20/59


Zum Tatbestand:

Die Klägerin macht gegenüber den niederländischen Beklagten, die unstreitig für die Folgen eines Schiffszusammenstoßes aufzukommen haben, Nutzungsverlust geltend. Sie stützt sich auf die von niederländischen Experten A und B aufgemachte und vorbehaltslos unterzeichnete Schadenstaxe. Darin heißt es u. a., daß die Reparatur für das beschädigte Schiff 8 Werktage betrage. Die Beklagten behaupten, die Reparatur sei während einer von dem Unfall unabhängigen Wartezeit von 7 Wochen ausgeführt worden. Sie greifen sodann unter Hinweis auf veränderte Verhältnisse in der Beschäftigungslage die Rechtsprechung zur Frage der vorbehaltslos unterzeichneten kontradiktorischen Schadenstaxe an. Sie meinen ferner, daß die vorbehaltslose Unterzeichnung unbedeutend sei, weil holländische Experten bei der Erstellung von Schadenstaxen die Vorstellung hätten, daß nach holländischem Recht selbst bei Verzicht auf einen Vorbehalt Schäden und auch Nutzungsverluste konkret nachgewiesen werden müßten und Vorbehalte daher überflüssig seien.
Das Rheinschiffahrtsgericht hat der Klage stattgegeben, das Rheinschiffahrtsobergericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.


Aus den Entscheidungsgründen:

Der Senat wendet seit Jahrzehnten in ständiger Reditsprechung den Grundsatz an, „daß der aus der gemeinschaftlichen Schadenstaxe zu errechnende Nutzungsverlust bereits vor der Schadensbeseitigung und ohne Nachweis seines tatsächlichen Entstehens auch bei kleineren Havarieschäden verlangt werden könne“ (so z.B. die Urteile vom 11.11.1954 in den Sachen 3 U 34/53 und 3 U 85/51). An anderer Stelle (Urteil vom 2.12.1954 in der Sache 3 U 48/52) ist der gleiche Grundsatz wie folgt formuliert worden:
„Danach ist davon auszugehen, daß durch die Festlegung einer bestimmten Anzahl von Reparaturtagen in der kontradiktorischen Schadenstaxe ein nachträglicher Streit über die Dauer der Stillegung, der aus mehrfachen Gründen entstehen kann, von vornherein ausgeschaltet sein soll und Verdienstausfall für die in der Taxe festgelegten Tage daher in der Regel auch ohne tatsächlichen Nachweis nach Maßgabe der zur Unfallzeit geltenden Verdiensthöhe beansprucht werden kann."
Diese Rechtsprechung stützt sich auf die wiederholte gutachtliche Feststellung der Schifferbörse in Duisburg-Ruhrort, daß ein entsprechender Handelsbrauch bestehe. Dies ist z. B. in einem Gutachten vom 18. 9. 1936 ausgesprochen und auf wiederholte Anfragen des Senates in verschiedenen Prozessen bestätigt und präzisiert worden. Zuletzt geschah dies in einer Stellungnahme vom 30. 7. 1959 in dem Rechtsstreit 3 U 14/59. Hier wird die am 18. 9. 1936 erteilte Auskunft wörtlich wie folgt wiederholt:
„Eine kontradiktorische Schadenstaxe, die die Klausel ,Dauer der Reparatur' . . . Arbeitstage' enthält, wird auch in Hinsicht auf die angegebene Reparaturzeit als bindend für die Beteiligten angesehen, und zwar auch insoweit, als die Beteiligten später zur Begründung eines Anspruchs auf Ersatz entgangenen Gewinns nicht mehr geltend machen können, die Ausbesserung habe mehr oder weniger Zeit beansprucht als in der Schadenstaxe genannt."
Eine Partei, welche die Konsequenzen dieses Handelsbrauches vermeiden will, muß ihren Experten anweisen, die Taxe entweder überhaupt nicht oder nicht ohne entsprechenden Vorbehalt zu unterzeichnen, sofern die von ihr nicht gewünschte Feststellung darin enthalten ist.
Der genannte Handelsbrauch besteht unabhängig von der Konjunktur der Binnenschiffahrt. Dies geht besonders deutlich aus dem Gutachten der Schifferbörse vom 5. 9. 1952 hervor. In diesem Falle hatte das Rheinschifffahrtsgericht in Duisburg-Ruhrort die spezielle Frage gestellt, ob der genannte Handelsbrauch nur in normalen Zeiten, d. h. vor dem letzten Weltkriege, bestanden habe, oder ob er auch im Jahre 1952 fortbestehe. In der Antwort heißt es, daß die Beschäftigungsverhältnisse auf dem Rhein einem ständigen Wechsel unterlägen. Es ist deshalb im Einzelfall sehr schwierig, den entstandenen Nutzungsverlust konkret festzustellen. Um allen Erörterungen und möglichen Streitigkeiten auszuweichen, empfehle es sich, den in Jahrzehnten bewährten Handelsbrauch auch in der Rechtsprechung wieder Geltung zu bringen. Er habe nicht nur vor dem letzten Kriege bestanden, sondern bestehe nach wie vor fort.
Ist aber der hinsichtlich der kontradiktorischen Taxe bestehende Handelsbrauch sogar unter den ungewöhnlichen Umständen in der Zeit unmittelbar nach dem letzten Kriege in Geltung geblieben, so steht fest, daß er erst recht von üblichen Konjunkturschwankungen in normalen Zeiten nicht beeinflußt wird. Jede andere Feststellung würde zu einer unerträglichen Unsicherheit führen. Eine solche Entwicklung aber will der Brauch gerade verhindern. Die Gründe für seine Bildung sind darin zu suchen, daß er eine rasche mit möglichst wenig Kosten verbundene und möglichst wenig Arbeit verursachende Schadensfeststellung ermöglicht und langwierige Streitereien über die Höhe des Schadens verhindert. Er entlastet nicht nur die Reedereien und Versicherungsgesellschaften von mancher Verwaltungsarbeit, sondern dient ebenso der Entlastung der Schiffahrtsgerichte, deren Feststellungen auf die entscheidenden Fragen des Verschuldens und der Ursachen von Unfällen in den meisten Prozessen beschränkt werden können. Es ist unschwer zu erkennen, daß die beteiligten Schiffahrts- und Versicherungskreise diese Vorteile so hoch bewertet haben, daß demgegenüber der Nachteil einer im Einzelfall möglicherweise ungenauen Schadensberechnung in Kauf genommen wurde. Auch diese Überlegungen machen klar, daß der festgestellte Handelsbrauch durch Konjunkturschwankungen nicht beeinflußt wird, zumal die Parteien die Möglichkeit haben, seinen Folgen durch Vorbehalte in der Taxe oder durch die Weigerung, bei ihrer Erstellung mitzuwirken, zu entgehen.
Der genannte Handelsbrauch besteht für die gesamte Rheinschiffahrt ohne Rücksicht auf die Flagge. Auch dies bezeugen alle bisher in dieser Frage erstatteten Gutachten der Schifferbörse in Duisburg-Ruhrort. Sie enthalten an keiner Stelle die Feststellung, daß der Brauch nur für die deutsche Schiffahrt gelte, oder daß er in bestimmten Staaten, so in den Niederlanden, nicht anerkannt werde. Die umfassende Geltung des Handelsbrauches ist neuerdings auch von den Transportversicherern anerkannt und zur Grundlage eines Abkommens über die Regelung von Schäden aus Schiffsunfällen gemacht worden.
Die Parteien des Abkommens - auf der einen Seite der „Verband deutscher Rheinreeder e. V.", der „Schiffahrtverband für das westdeutsche Kanalgebiet e. V." und der „Schiffahrtsverband für das Wesergebiet e. V.", auf der anderen Seite der „Deutsche Transport-Versicherungsverband e. V." - haben sich deshalb auf folgende Regelung geeinigt.

a) Es wird auf den Einwand, daß im einzelnen Falle kein Nutzungsverlust entstanden sein könne, verzichtet.
b) Bei Reparaturen, die im Höchstfalle 3 Tage beanspruchen, wird kein Anspruch auf Nutzungsverlust geltend gemacht.
c) Bei längeren Reparaturen wird die Höhe des Nutzungsverlustes nach einer Tabelle berechnet, die nach Art und Größe der Schiffe gestaffelt ist und Tagessätze enthält.

Da das Abkommen nur unter den Beteiligten gelten und vermieden werden soll, daß Nichtbeteiligte in Streitfällen mit einem der Vertragspartner davon profitieren, soll in jeder kontradiktorischen Schadenstaxe, bei deren Erstellung die Vertragspartner mitwirken, folgender Vorbehalt aufgenommen werden.
„Reparaturdauer-Arbeitstage, jedoch ohne Präjudiz hinsichtlich der Schadensursache und der Schuldfrage. Ferner ohne Präjudiz für eine eventuelle Forderung auf Nutzungsverlust dem Grunde und der Höhe nach, soweit nicht anderweitige Vereinbarungen zwischen den Beteiligten getroffen sind."
Der letzte Halbsatz zeigt dabei, daß der Vorbehalt in Streitfällen zwischen den am Abkommen beteiligten
Verbänden und ihren Mitgliedern keine Bedeutung hat. Er soll nur Nichtbeteiligte dazu zwingen, ihren Nutzungsverlust konkret nachzuweisen mit der Maßgabe, daß die in der Taxe angegebene Reparaturzeit als Höchstzeit gelten soll. (Anmerkung der Redaktion: Das Amtsgericht - Schiffahrtsgericht - in Duisburg-Ruhrort hat in einem rechtskräftigen Urteil vom 8. Juli 1960 - 3 C 192/57 BSch - bestätigt, daß das oben bezeichnete Abkommen nur dann gilt, wenn sämtliche beteiligten Schiffseigner dem Abkommen unterliegen. Es genügt nicht, daß der oder die Versicherer dem Abkommen angeschlossen sind.) Dieses Abkommen ist zwar nur zwischen deutschen Verbänden abgeschlossen worden. Es geht aber, wie besonders der vereinbarte Vorbehalt zeigt, von der umfassenden vor keiner Flagge haltmachenden Geltung des für die Rheinschiffahrt festgestellten Handelsbrauches aus.

Der Vortrag der Beklagten, der festgestellte Handelsbrauch gelte für Holland nicht, sie hätten seine umfassende Geltung nicht gekannt und sich ihm nicht unterwerfen wollen, ist unbeachtlich, da der Brauch ohne Rücksicht darauf gilt, ob die Betroffenen ihn kennen und sich ihm unterwerfen wollen (so auch Wassermeyer, Kollisionsprozeß 2. Aufl. Seite 325).
Unbeachtlich ist auch der weitere Vortrag der Beklagten, ihr Experte A., der die Taxe für sie unterzeichnet habe, habe den Brauch nicht als auch in Holland geltend angesehen. Er habe mit seiner vorbehaltlosen Unterschrift deshalb nicht eine dem Handelsbrauch entsprechende Erklärung abgeben wollen. Einem solchen Irrtum kann eine rechtliche Bedeutung im vorliegendem Falle nicht zukommen. Selbst wenn man der bisherigen Rechtsprechung des Senates folgend in der kontradiktorischen Taxe ein Schiedsgutachten sieht und auf sie deshalb die Vorschriften der §§ 317-319 BGB, insbesondere § 318 Abs. 2 BGB, anwendet, was z. B. Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozesses 6. Aufl. S. 794, und Baumbach ZPO 25 Aufl. Vorbemerkungen 3 B vor § 1025 für zulässig halten, so scheitert eine Anfechtung nach § 119 BGB in vorliegendem Falle daran, daß sie nicht unverzüglich, nachdem die Beteiligten von dem Anfechtungsgrunde Kenntnis erlangt hatten, erfolgt ist (§ 121 BGB). Diese Kenntnis wurde gewonnen, als die Klägerin bei den diesem Rechtsstreit voraufgehenden Verhandlungen ihre Auslegung der Taxe den Beklagten mitteilte. Spätestens in diesem Zeitpunkt hätten die Beklagten die Erklärung ihres Experten gemäß den §§ 318 Abs. 2, 119 BGB anfechten müssen. In Wirklichkeit haben sie es nicht einmal im bisherigen Verlauf des Rechtsstreites getan. Nur der Vollständigkeit halber bemerkt der Senat, daß erhebliche Zweifel bestehen, ob die Behauptung der Beklagten über die Unkenntnis ihres Experten richtig ist. Herr A. aus Rotterdam ist dem Senat als mit den Verhältnissen der gesamten Rheinschiffahrt vertrauter, sehr erfahrener Sachverständiger seit langem bekannt. Es ist schwer vorstellbar, daß er den so entscheidend wichtigen Handelsbrauch nicht in vollem Umfange gekannt haben soll.