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3 U 31/61 - Oberlandesgericht (Rheinschiffahrtsobergericht)
Entscheidungsdatum: 22.03.1962
Aktenzeichen: 3 U 31/61
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Oberlandesgericht Köln
Abteilung: Rheinschiffahrtsobergericht

Leitsatz:

Eine Abweichung von allgemein gebräuchlichen Kursen der Schiffahrt ist nicht ohne weiteres fehlerhaft. Das Weisungsrecht des Bergfahrers muß jedoch so ausgeübt werden, daß unter Berücksichtigung der örtlichen Umstände dem Talfahrer ein geeigneter Weg freigelassen wird. Der geeignete Weg ist, sofern nicht erhebliche Gründe entgegenstehen, der nach Übung und Schiffahrtsbrauch der Talfahrt vorbehaltene Weg.

 

Urteil des Oberlandesgerichts

Rheinschiffahrtsobergerichts

in Köln vom 22.3.1962

(Rheinschiffahrtsgericht St. Goar)

3 U 31/61


Zum Tatbestand

Bei einer Begegnung an der Loreley kollidierten im rechtsrheinisch verlaufenden üblichen Weg der Talfahrt das zu Tal fahrende MS „A" der Klägerin und der der Bekl. zu 1 gehörende, vom Bekl. zu 2 geführte, zu Berg fahrende Dampfer „B", was zur Beschädigung beider Schiffe führte.
Die Klägerin begründet ihren geltend gemachten Schadensersatzanspruch damit, daß sich der zu Berg fahrende Dampfer „B" entgegen jeder Übung im Fahrwasser der Talfahrt befunden habe, obwohl MS „A" neben sonstiger Talfahrt gewahrschaut worden sei. Dampfer „B" habe seinen Kurs und seine hohe Fahrtstufe auch noch beibehalten als MS „A" in Sicht gekommen sei. Da der Talfahrt nach den gegebenen örtlichen Verhältnissen kein geeigneter Fahrweg belassen sei, könne sich „B" auch nicht auf sein Kursweisungsrecht gegenüber Talfahrern berufen. Dabei habe MS „A" die blaue Seitenflagge auch nicht sofort erkennen können.
Die Beklagten meinen, daß keine Verpflichtung bestehe, den allgemein üblichen Kurs einzuhalten. Insbesondere sei ein Bergfahrer nicht verpflichtet, von seinem Weisungsrecht nur im Rahmen dieses üblichen Kurses Gebrauch zu machen. MS „A" habe genügend Platz gehabt, jedoch auf die Kursweisung zu spät reagiert. Auf die rechtzeitige Erkennung und Befolgung der Kursweisung habe sich die Schiffsführung von „B" verlassen. Das Rheinschiffahrtsgericht hat der Klage dem Grunde nach in vollem Umfange stattgegeben. Die Berufung der Beklagten war erfolglos.


Aus den Entscheidungsgründen

Unter den obwaltenden Umständen liegt ein Verstoß des Beklagten zu 2) gegen § 4 RhSchPVO darin, daß er noch in der Nähe der Unfallstelle im allgemein üblichen Kurse der Talfahrt zu Berg gefahren ist. Die allgemein gebräuchlichen Kurse der Schiffahrt auf dem Rhein haben sich in langer Übung als zweckmäßig herausgestellt. Sie sind in Atlanten und in Schiffahrtshandbüchern beschrieben und in Schiffahrtskreisen allgemein bekannt. Der einzelne Schiffer richtet sich bei der Festlegung seines Kurses in der Regel nach ihnen, wie dem Senat bekannt ist. Allerdings ist die Beobachtung dieser Kurse nicht zwingend vorgeschrieben. Eine Abweichung von ihnen kann nicht ohne weiteres als nautisch fehlerhaft bezeichnet werden. Die einzelne konkrete Situation kann sie sogar zwingend gebieten. Zu beachten ist aber, daß eine solche Abweichung an unübersichtlichen Stromstellen Gefahren heraufbeschwören kann. Dort kann das Revier oft nur auf eine so kurze Strecke übersehen werden, daß zu einer sachgemäßen Reaktion eines Gegenkommers auf überraschende Situationen nicht genügend Zeit bleibt. Jeder Schiffsführer vertraut unter solchen Umständen darauf, daß seine Kollegen überraschende Lagen und die damit verbundenen Unfallgefahren nicht unnütz heraufbeschwören. Es gehört zur allgemeinen nautischen Sorgfaltspflicht eines jeden Schiffsführers, dieses berechtigte Vertrauen nicht zu enttäuschen. Eine Überraschung bedeutet aber das Abweichen von den üblichen Kursen, das durch eine genügend übersehbare Situation im Revier nicht geboten wird. Diese Grundsätze gelten auch im Hinblick auf das Kursweisungsrecht der Bergfahrer. Es muß nach § 38 Ziff. 1 RhSchPVO so ausgeübt werden, daß den Talfahrern unter Berücksichtigung der örtlichen Umstände und des übrigen Verkehrs ein geeigneter Weg freigelassen wird. Dieser geeignete Weg ist, sofern nicht erhebliche Gründe entgegen stehen, der nach Übung und Schiffahrtsbrauch der Talfahrt vorbehaltene Weg (so auch Kählitz „Verkehrsrecht auf Binnenwasserstraßen" Bd. 2 S. 197). Hinzu kommt, daß das Kursweisungsrecht des Bergfahrers so rechtzeitig und deutlich ausgeübt werden muß, daß der angesprochene Talfahrer auf die Kursweisung zweckmäßig reagieren kann. Beide Gesichtspunkte machen es an unübersichtlichen oder schlecht zu übersehenden Stromstrecken in aller Regel bedenklich, der Talfahrt einen anderen Kurs als den allgemein üblichen zu weisen.

Die Unfallstelle des vorliegenden Falles liegt an einer der unübersichtlichsten Stellen des Rheinstroms kurz oberhalb der Loreley. Sie ist dem Senat aus vielen Reisen bekannt und geht auch aus den Atlanten hervor. Zwischen Loreleykrümmung und Betteck liegen etwa 600 m Stromstrecke. Weitere Stromkrümmungen befinden sich in zum Teil verhältnismäßig geringen Abständen oberhalb des Bettecks und unterhalb der Loreley. Auf der genannten Gesamtstrecke liegen mehrere Gründe und Felsen im Strom. Unterhalb des Bettecks geht der Strom stark zum rechtsrheinischen Ufer hin; die Talfahrt hat also gegen einen starken Hang dort zu kämpfen. Die Unübersichtlichkeit der genannten Stromstrecke hat Veranlassung gegeben, dort mehrere Wahrschaustationen einzurichten, um die Belegung des Reviers den Beteiligten, die sie nicht übersehen können, rechtzeitig anzuzeigen. Alle diese Umstände zeigen, daß hier mit besonderer Sorgfalt navigiert werden muß. Diese Sorgfalt erfordert im allgemeinen die Einhaltung der üblichen Kurse, sofern nicht erhebliche Gründe eine Abweichung davon gebieten. Solche Gründe sind vorliegend nicht dargetan.
Ein weiterer Verstoß gegen diese Bestimmung liegt in der Geschwindigkeit, mit der er gefahren ist. Der Vorderrichter hat mit Recht festgestellt, daß der Dampfer „B" bis kurz vor der Kollision (schätzungsweise 7 bis 8 Sekunden vorher) mit voller Maschinenkraft gefahren ist und erst dann die Fahrt verlangsamt hat.
Die Beibehaltung einer hohen Geschwindigkeit bis unmittelbar vor der Kollision war in der Nähe der Unfallstelle bei dem vom Beklagten zu 2) beibehaltenen Kurse falsch. Sie verkürzte die Reaktionszeit der Führung von MS „A", nachdem dort die Kursweisung des Beklagten zu 2) erkennbar geworden war, so sehr, daß sie zu einer sachgemäßen, eine Kollision vermeidenden Reaktion nicht mehr ausreichte. Die voraufgegangenen Ausführungen zeigen auch, daß in dem geschilderten Verhalten des Beklagten zu 2) ein Verstoß gegen § 38 RhSchPVO liegt. Er hat, ohne daß die Situation dies gebot oder sonstige erhebliche Gründe vorlagen, dem zu Tal kommenden MS „A" wider dessen normale Erwartungen einen Kurs gewiesen, der nicht dem dort üblichen Kurs der Talfahrt entsprach, und er hat darüber hinaus diese Kursweisung so spät in einer zweifelsfrei erkennbaren Weise vorgenommen, daß darauf nicht mehr sachgemäß reagiert werden konnte.
Schließlich wäre die Kollision auch dann vermieden worden, wenn der Beklagte zu 2) schon beim Umfahren der Loreley eine akustische Kursweisung gemäß § 38 Ziff. 4 RhSchPVO gegeben hätte. Der Vorderrichter hat dargelegt, daß und warum die blaue Seitenflagge von „B" auf MS „A" nicht rechtzeitig erkannt werden konnte. Die in diesem Zusammenhang verwerteten Tatsachen mußte auch der Beklagte zu 2) bei gehöriger Aufmerksamkeit erkennen. Er hatte deshalb Anlaß, davon auszugehen, daß seine optische Kursweisung auf „A" nicht rechtzeitig verstanden werden konnte und daß deshalb gleichzeitig die für diesen Fall vorgesehene akustische Weisung zu geben sei. Sie würde, wenn sie sofort beim Umfahren der Loreley gegeben und mit einer sofortigen erheblichen Herabsetzung der Geschwindigkeit von „B" verbunden worden wäre, die Reaktionszeit für die Führung von „A" so verlängert haben, daß trotz des vom Üblichen abweichenden Kurses von „B" ein Unfall vermieden worden wäre.
Mit Recht hat der Vorderrichter schließlich im einzelnen ausgeführt, daß Führung und Besatzung von MS „A" keinen Vorwurf verdienen, weil sie angesichts der vom Beklagten zu 2) geschaffenen Gefahrenlage alles getan haben, was zur Vermeidung der drohenden Kollision und zur Abschwächung ihrer Folgen notwendig war.