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II ZR 121/62 - Bundesgerichtshof (Berufungsinstanz Rheinschiffahrt)
Entscheidungsdatum: 09.01.1964
Aktenzeichen: II ZR 121/62
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Bundesgerichtshof Karlsruhe
Abteilung: Berufungsinstanz Rheinschiffahrt

Leitsatz:

Der Überholende hat zu beweisen, dal; nicht nur für den Beginn, sondern für die ganze Dauer des Überholmanövers bis zu seiner Beendigung das Fahrwasser „unzweifelhaft hinreichenden Raum für die Vorbeifahrt" ( § 37 Nr. 1 Rheinsch.PoLVO.) gewährt. Das Überholen ist nicht schon dann beendet, wenn das Heck des überholenden Schiffes den Bug des vorausfahrenden passiert hat, sondern erst dann, wenn von ihm keine Gefahr mehr für das andere Schiff ausgehen kann. Ebenso wie für das Begegnen gilt für das Überholen der Satz, daff unter Kurs 1. S. des § 37 Nr. 3 Rheinsch. Pol.VO. der Weg zu verstehen ist, den die beiden Schiffe zu wählen haben, um für beide (und sonstige Verkehrsteilnehmer) die Vorbeifahrt gefahrlos zu gestalten. Eine verbotene Kursänderung des überholenden Schiffes liegt daher vor, wenn es durch Parallelfahrt mit dem zu überholenden Schiff dieses daran hindert, den für seine Abladetiefe gebotenen Weg einzuschlagen.

 

Urteil des Bundesgerichtshofes

vom 9. Januar 1964

(Rheinschiffahrtsgericht St. Goar / Rheinschiffahrtsobergericht Köln)

II ZR 121/62

Zum Tatbestand

Das mit Benzin beladene rechtsrheinisch bei Unkel zu Berg fahrende MTS „A" (906 t, 500 PS) der Klägerin wurde steuerbords von dem der Beklagten zu 1 gehörenden, vom Beklagten zu 2 geführten beladenen MS „B" (1246 t, 900 PS) überholt. Bei oder vor Beendigung des Überholvorganges rakte MS „A" und wurde im Vorschiff leck. Zu dieser Zeit setzte MS „B" zur Überholung von MS „C" (1129 t) an, das in der Gegend des Unkelsteins den Übergang von der linken zur rechten Rheinseite gemacht hatte und nun seitlich vor den beiden anderen Bergfahrern lag. Der Kläger verlangt Ersatz der durch die Leckage entstandenen Schäden in Höhe von über 52 000,- DM mit der Begründung, daß der Beklagte zu 2 die Überholung des MS „C" vor dessen vollständigem Übergang auf die rechtsrheinische Seite nicht abgewartet, sondern dessen Backbordüberholung in rücksichtsloser Weise erzwungen habe, um selbst im ruhigeren rechten Fahrwasser zu fahren. Dabei sei „B" mit voller Geschwindigkeit vor dem Kopf des langsam gehenden MTS „A" so kurz vorbeigekommen, daß letzteres durch den Sog von „B" nach Backbord gezogen, jedenfalls wegen Wegnahme des Wassers auf Grund geraten sei.
Die Beklagten bestreiten diese Behauptungen und erklären u. a., daß die Überholung in 30 m Abstand von MTS „A" durchgeführt sei. MS „C" habe den Übergang schon in Strommitte abgebrochen und seine Überholung durch Herabsetzung der Geschwindigkeit erleichtert. Die Grundberührung sei nur erfolgt, weil MTS „A" ohne ersichtlichen Grund dicht am rechten Ufer hochgefahren und ohne wesentliche Fahrtverminderung in gestreckter Fahrt auf Grund gelaufen sei. Dies habe nicht am Sog gelegen, der erfahrungsgemäß sich nur so auswirke, daß das überholte Schiff dem Überholer nachlaufe.
Das Rheinschiffahrtsgericht hat die Klage abgewiesen. In der Berufungsinstanz hat die Klägerin ihren Anspruch nur noch in Höhe von 2/3 des ihr entstandenen Schadens geltend gemacht; die Berufung blieb jedoch erfolglos. Auf die Revision wurde die Klage dem Grunde nach zu % des entstandenen Schadens für gerechtfertigt erklärt.

Aus den Entscheidungsgründen

Das Berufungsgericht hält die Auffassung der Klägerin, das Überholen von „A" durch „B" sei unzulässig gewesen, für unzutreffend (5. 7). Es hat dabei verkannt, daß die Vorschrift des § 37 Nr. 1 RhSchPVO nicht nur für den Beginn, sondern auch für die ganze Dauer des Überholvorganges (also für seine Durchführung bis zur völligen Beendigung) gilt. Treten während des Überholens irgendwelche Umstände ein, die es fraglich erscheinen lassen, ob unzweifelhaft hinreichender Raum für die weitere Vorbeifahrt gewährt ist, so muß der 'Überholende beweisen, daß dieser Raum vorhanden war. Das ergibt klar der Wortlaut und der Sinn der Vorschrift. Sie spricht von dem „Überholen", der „Vorbeifahrt" ganz allgemein, nicht von dem Beginn dieses Manövers. Zweck der Vorschrift ist, gefährliche Überholmanöver möglichst auszuschalten. Deshalb wird die Erlaubnis des Überholens an die Voraussetzung des unzweifelhaft hinreichenden Raumes geknüpft und dem Überholenden überdies die Beweislast hierfür aufgebürdet. Ein bei Beginn ungefährliches Überholmanöver kann im Verlauf des sich oft auf lange Strecken hinziehenden Überholvorganges gefährlich werden, z. B.. infolge einer Änderung der Verkehrslage, die nach der Vorschrift zu berücksichtigen ist. Der Zweck der Vorschrift wäre für viele Fälle vereitelt, wenn sie, wie offenbar das Berufungsgericht meint, nur den Beginn des Überholmanövers regeln würde. Das gleiche gilt für die Vorschrift des § 42 Nr. 1 RhSchPVO, wonach sich der Überholende zu vergewissern hat, dat7 das Überholmanöver ohne Gefahr durchgeführt werden kann, d. h. bis zu seiner völligen Beendigung ohne Gefahr durchgeführt werden kann. Beendet ist das Manöver nicht schon dann, wenn das Heck des überholenden Schiffes den Bug des Vorausfahrenden passiert hat, sondern erst dann, wenn von dem überholenden Schiff keine Gefahr (z. B. Sogwirkung, gefährliche Kursbehinderung) mehr für das andere Schiff ausgehen kann. Der Oberholende mul3 daher, wenn im Verlauf seines Manövers sich herausstellt, daß unzweifelhaft hinreichender Raum bis zur Beendigung seines Manövers nicht vorhanden ist, das 'Überholen abbrechen; insoweit trägt er das Risiko des Überholens. Etwas anderes besagt auch nicht die Entscheidung des erkennenden Senats vom 12. Mai 1960 II ZR 208/58 (VersR 1960 S. 594, 595, s. auch ZfB 1960, S. 281), in der ausdrücklich darauf hingewiesen ist, daß die allgemeine Beweislastregel (wonach der Geschädigte das ursächliche Verschulden des Schädigers zu beweisen hat) erst dann eintritt, wenn feststeht, daß der unzweifelhaft hinreichende Raum für das 'Überholen gegeben war. Dieser Raum mul3 dort vorhanden gewesen sein, wo der Überholende gefahren ist; es genügt selbstverständlich nicht, daß er dort vorhanden gewesen ist, wo er nicht gefahren ist, aber hätte fahren können.
Wendet man diese Grundsätze auf den vorliegenden Fall an, so ergibt sich folgendes:
Aus dem Zusammenhang der Feststellungen ergibt sich der zwingende Schlug, daß MS „B" sein Überholmanöver gegenüber „A" noch nicht beendet hatte, als es zum Überholen von „C" ansetzte, so daß beide Überholmanöver als einheitliches Ganzes betrachtet werden müssen. Die Meinung des Berufungsgerichts, die 'Überholung von „A" sei in diesem Zeitpunkt beendet gewesen, steht mit seiner gleichzeitig getroffenen Feststellung, die erste Überholung habe sich in der Endphase befunden, in Widerspruch und ist nur mit einer Verkennung des Begriffs der Beendigung des 'Überholmanövers zu erklären. Es kommt also darauf an, ob „B" nach der Verkehrslage unzweifelhaft hinreichenden Raum für die von seiner Schiffsführung gewählten Vorbeifahrt an „A", d. h. an der Durchfahrt zwischen den Schiffen „A" und „C" hatte. Daß dies der Fall war, haben die Beklagten zu beweisen. Sie haben den Beweis nicht geführt.

Ist hiernach zu Lasten der Beklagten davon auszugehen, daß das Fahrwasser bei dem von „B" eingeschlagenen Kurs unzweifelhaft hinreichenden Raum für die Vorbeifahrt an „A" nicht gewährte, so kann auch an dem Verschulden des Schiffsführers von „B" kein Zweifel bestehen. Denn er muße das Fahrwasser kennen und damit erkennen, daß er durch die von ihm gewählte Art des Überholens das beladene MS „A" zwang, außerhalb des Fahrwassers zu fahren.
Aber auch unabhängig von der Unzulässigkeit des Überholens ist dem Beklagten zu 2 der Vorwurf der schuldhaften Verursachung des Unfalls zu machen... 
Nach § 37 Nr. RhSchPVO dürfen Fahrzeuge beim Überholen ihren Kurs nicht ändern, nachdem dieser nach § 43 RhSchPVO festgelegt ist. Dieses Kursänderungsverbot gilt sowohl für das vorausfahrende Schiff als auch für den 'Überholenden. Für letzteren bedeutet es, daß er jedenfalls den Kurs des Vorausfahrenden nicht_ schneiden darf, sondern sich bis zur Beendigung des 'Überholens in der nach nautischen Grundsätzen gebotenen Mindestentfernung von dem Kurs des zu überholenden Schiffes halten muß. Hiergegen hat der Beklagte zu 2 verstoßen. Die abweichende Ansicht des Berufungsgerichts beruht auf einer Verkennung des Begriffes „Kurs". Der erkennende Senat hat den Begriff „Kurs" i. S. des § 37 Nr. 3 RhSchPVO für das Begegnen wiederholt (VersR 1959, 608, 609; 1962, 320, 321) dahin erläutert, daß unter Kurs der Weg zu verstehen ist, den Berg- und Talfahrer zur gefahrlosen Vorbeifahrt' zu wählen haben, nicht aber die Lage und Richtung ihres Schiffes im Augenblick der Zeichengebung. Nichts anderes gilt für das Überholen. Auch hier kommt es nicht auf die Lage und Richtung des zu überholenden Schiffes im Zeitpunkt des Beginns des Überholmanövers und während der ganzen Dauer seiner Durchführung an, sondern auf den von ihm nach nautischen Grundsätzen einzuschlagenden Weg; der 'Überholende muß sich für seine eigene Kursführung die Frage vorlegen, welchen Weg das zu überholende Schiff nach nautischen Grundsätzen einzuschlagen und welchen Sicherheitsabstand er von dem anderen Schiff zu halten hat; ist er über den Weg des anderen Schiffes im unklaren, etwa, weil er in der Dunkelheit nicht feststellen kann, ob das andere Schiff beladen ist und daher seinen Weg im tieferen Wasser wählen muß, so muh er bei seinen 'Überlegungen von der größten Abladetiefe des anderen Schiffes ausgehen. Nicht anders als beim Begegnen (§ 38 Nr. 1 RhSchPVO) muß auch beim 'Überholen dem zu überholenden Schiff ein geeigneter Weg freigelassen werden. Geschieht das nicht, indem der Überholende den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht einhält oder durch seine eigene Fahrweise das andere Schiff daran hindert, den geeigneten Weg einzuschlagen, so schneidet er den Kurs des anderen Schiffes und nimmt eine nach § 37 Nr. 3 RhSchPVO verbotene Kursänderung vor. Die tatsächlichen Voraussetzungen einer solchen Kursänderung muß - im Gegensatz zu der für die Zulässigkeit des Überholens maßgebenden Voraussetzung des unzweifelhaft' hinreichenden Raumes - das zu überholende Schiff im Falle seiner Schädigung beweisen.
Diesen Beweis hat die Klägerin nach dem unstreitigen Sachverhalt in Verbindung mit den Feststellungen des Berufungsgerichts geführt. . . Wenn „A" bei dem festgestellten Seitenabstand von 30 m nicht den nautisch gebotenen Kurs einschlagen konnte, so ist sie durch den nach § 37 Nr. 3 RhSchPVO verbotenen Backbordkurs von „B" daran gehindert worden.
Irgend ein Anhaltspunkt dafür, daß der Schiffsführer von „A" seinen nautisch fehlerhaften Kurs auch dann eingeschlagen hätte, wenn „B" sich nautisch richtig verhalten, also entweder das Überholmanöver abgebrochen hätte oder entsprechend den Fahrwasserverhältnissen zum Strom hin abgegangen wäre (um „C" auf deren Steuerbordseite zu überholen), ist nicht gegeben.

Der Beklagte zu 2 mußte die Fahrwasserverhältnisse kennen und bei seiner Vorbeifahrt der „A" einen geeigneten Weg freilassen. Er hat gesehen oder mußte jedenfalls bei Anwendung der nötigen Sorgfalt sehen, dag er ein beladenes Motortankschiff überholt; er mußte damit rechnen, dag das Schiff wegen seiner Tauchtiefe mit Rücksicht auf den immer weiter vorspringenden Grund gezwungen war, zum Strom hin abzugehen. Es ist unrichtig, wenn das Berufungsgericht meint, der von „A" tatsächlich gefahrene Kurs habe aus Gründen, die dem Beklagten zu 2 unbekannt gewesen seien und allein in den Verantwortungsbereich des Schiffsführers von „A" gehört hätten, zur Grundberührung führen müssen. Diese Ansicht würde ein nautisch fehlerhaftes Überholen durch Abdrängung des zu überholenden Schiffes aus dem Fahrwasser begünstigen. Vielmehr fällt es in den Bereich der vollen Verantwortung des überholenden Schiffsführers, zu prüfen, ob "alle örtlichen Umstände" (§ 37 Nr. 1 RhSchPVO), zu denen vor allem die Fahrwasserverhältnisse gehören, ein das andere Schiff nicht gefährdendes Überholen gestatten.
Auch der Schiffsführer von „A" muhte die Fahrwasserverhältnisse kennen. Der hervorspringende Grund einerseits, das Überholmanöver von „B" und der gleichzeitige Übergang von „C" andererseits muhten ihm die Überlegung aufdrängen, daß eine schwierige Verkehrssituation entstehen könnte, in der von einem anderen Verkehrsteilnehmer leicht Fehler gemacht werden können. Er mußte daher nach § 42 Nr. 1 S. 3 RhSchPVO seinerseits das Überholen soweit wie möglich erleichtern und. abkürzen. Da die Voraussetzungen des § 44 Nr. 2 RhSchPVO gegeben waren, muhte er seine Fahrtstufe rechtzeitig erheblich herabsetzen. Nach der Feststellung des Berufungsgerichts hätte er seine Geschwindigkeit von 8 bis 9 km/h nicht nur um 1 km/h, wie geschehen, sondern in größerem Umfang herabsetzen können, ohne deshalb Gefahr zu laufen, in den Sog von „B" zu kommen. Nach dem Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen, dem das Berufungsgericht offensichtlich gefolgt ist, hätte der Unfall durch erhebliche Fahrtverminderung vermieden werden können. Den Schiffsführer von „A" trifft daher ein ursächliches Mitverschulden an dem entstandenen Schaden.
Das erheblich überwiegende ursächliche Verschulden trifft den Beklagten zu 2 als Führer des MS „B" wegen der Unzulässigkeit des 'Überholmanövers und wegen seiner nautisch fehlerhaften und rücksichtslosen Fahrweise (Kursänderung). Demgegenüber fällt das ursächliche Verschulden des Führers von „A", der vor allem seine Fahrtstufe nicht rechtzeitig genügend herabgemindert hat, nicht so stark ins Gewicht. Die Klägerin hat in Erkenntnis des Fehlers ihres Kapitäns ihren Anspruch auf 2/3 des entstandenen Schadens beschränkt. Das erscheint dem Senat, der dem Grunde nach gemäß §§ 304, 565 Abs. 3 N. 1 in der Sache selbst entscheiden kann, angemessen. Nach §§ 823, 254, 840 BGB, § 92 BSchG, §§ 736 HGB, § 538 Abs. 1 Nr. 3 ZPO war demnach zu erkennen wie geschehen."