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II ZR 129/63 - Bundesgerichtshof (-)
Entscheidungsdatum: 29.04.1965
Aktenzeichen: II ZR 129/63
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Bundesgerichtshof Karlsruhe
Abteilung: -

Leitsätze:

1) Die Worte „infolge der verminderten Sicht" in § 80 Nr. 2 RhSchPVO sind dahin auszulegen, dass die „Fahrt infolge der bestehenden oder bevorstehenden verminderten Sicht" nicht mehr ohne Gefahr fortgesetzt werden kann.
2) Der Bergfahrer kann bei unsichtigem Wetter die Fahrt im allgemeinen länger fortsetzen als der Talfahrer.
3) Im Falle des § 254 Abs. 2 BGB trägt der Schädiger die Beweislast.

Urteil des Bundesgerichtshofes

vom 29. April 1965

(Rheinschifffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort; Rheinschifffahrtsobergericht Köln)

Zum Tatbestand:

Bei Hochwasser befand sich der der Klägerin gehörende, beladene Kahn „B"  im Anhang von MS „F" rechtsrheinisch bei Honnef auf Bergfahrt. Während der Annäherung eines Talzuges, bestehend aus dem der Beklagten zu 1 gehörenden, vom Beklagten zu 2 geführten leeren MS „R" und 2 Anhängen auf einer Länge, dem beladenen „S" backbords und dem leeren Kahn „K" steuerbords, setzte starkes Schneetreiben ein, so dass es unsichtig wurde. Bei der Begegnung die nach Blinklichtverständigung Steuerbord an Steuerbord erfolgte, kam es zu Kollisionen, wobei zunächst eine Berührung zwischen dem "R"-Motor und dem Braunkohlenkahn und anschließend eine Kollision zwischen dem Braunkohle- und "K"- Kahn stattfand. Der Braunkohlekahn, der abgerissen war, sank nach etwa 2 1/2 Stunden, wobei er schwere Schäden erlitt. Von der Ladung ging ein großer Teil verloren.

Die Klägerin verlangt Schadensersatz, weil der Talzugführer bei, dem unsichtigen Wetter nicht rechtzeitig aufgedreht, sondern die Fahrt entgegen § 80 Nr. 2 RhSch-PVO fortgesetzt habe. Die Beklagten berufen sich auf höhere Gewalt, da das Wetter unvorhersehbar plötzlich hereingebrochen sei. Der Bergzug habe entgegen § 80 Nr. 3 und 4 RhSchPVO die Fahrt fehlerhaft in dichtem Schneetreiben fortgesetzt. Auch habe der Braunkohlekahn 16 bis 19 m weiter im Fahrwasser gelegen als MS „F". Schließlich treffe auch die Führung der Talkähne ein unfallursächliches Verschulden. Der Braunkohlekahn habe nicht zu sinken brauchen, wenn die Besatzung in den 2 1/2 Stunden alles zur Rettung Erforderliche getan hätte. Die Klage ist vom Rheinschifffahrtsgericht dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt worden. Das Rheinschifffahrtsobergericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Auch ihre Revision blieb erfolglos.

Aus den Entscheidungsgründen:

I. Verschulden der Führung des MS „R" an der Kollision.
Der Beklagte zu 2 hat es, wie die Feststellungen im angefochtenen Urteil ergeben, unterlassen, rechtzeitig aufzudrehen, obwohl er damit rechnen musste, dass in kurzer Zeit die Sicht für ihn so vermindert sein werde, dass er die Fahrt nicht mehr ohne Gefahr werde fortsetzen können. Darin liegt ein Verstoß gegen § 80 Nr. 2 RhSchPVO. Wenn diese Vorschrift dem Talfahrer das Anhalten oder Aufdrehen gebietet, sobald er „infolge der verminderten Sicht" und mit Rücksicht auf den übrigen Verkehr oder die örtlichen Umstände die Fahrt nicht mehr ohne Gefahr fortsetzen kann, so ist das nicht etwa auszulegen, dass erst dann, wenn sich der Talfahrer selbst im Bereich der verminderten Sicht bewegt, die Pflicht zum Anhalten oder Aufdrehen besteht. Eine solche enge Auslegung würde dem Sinn und Zweck der Vorschrift, die die mit der Fahrt bei unsichtigem Wetter verbundenen Gefahren ausschließen oder wenigstens vermindern will, nicht gerecht werden. Die Erfahrung lehrt, dass ein Talfahrer selbst noch auf Hunderte von Metern gute Sicht haben, aber weiter stromabwärts eine Wetterlage (z. B. Nebelwand, Schneetreiben) erkennen kann, bei der er mit so starker Sichtbehinderung rechnen muss, dass er dann nicht mehr ohne Gefahr weiterfahren kann. Wäre dem Talfahrer gestattet, bis zum Beginn dieser Sichtbehinderung weiterzufahren, so wäre es für ein Aufdrehen - ein Anhalten kopfvor kommt für den Talfahrer, insbesondere für einen Talschleppzug, wegen der damit verbundenen Gefahren regelmäßig nur in Notfällen in Betracht - zu spät; das Aufdrehen mühte sich im Bereich der Sichtbehinderung vollziehen und brächte dabei häufig noch gröbere Gefahren mit sich als die bloße Fortsetzung der Fahrt. Die Vorschrift des § 80 Nr. 2 RhSchPVO kann ihren Zweck nur erfüllen, wenn die Worte „infolge der verminderten Sicht" dahin ausgelegt werden, dass die Fahrt "infolge der bestehenden oder bevorstehenden verminderten Sicht" nicht mehr ohne Gefahr fortgesetzt werden kann. Unter Berücksichtigung aller Umstände (z. B. Art und Geschwindigkeit des Talfahrers, übriger Verkehr, örtliche Strömungs- und Windverhältnisse) muss der Talfahrer bei voraussehbarer Sichtbehinderung das Aufdrehen so rechtzeitig beginnen, dass sein Wendemanöver beendigt ist, solange er (bei Talschleppzügen auch die Anhänge) noch ausreichende Sicht hat. Geht er dabei unter Verletzung seiner Sorgfaltspflichten ein Risiko ein, so geht das zu seinen Lasten.

II. Verschulden des Führers des Kahnes „B" an der Kollision.

Das Berufungsgericht führt aus:

Der Bergzug, der zunächst mit einer Geschwindigkeit von 4 bis 6 1/2 km/h gefahren sei, habe mit dem zunehmenden Schneefall seine Fahrt weiter verlangsamt und spätestens bei der Kollision ganz abgestoppt. Unterhalb der Fähre sei ein Ankern oder auch nur ein Anhalten wegen der Strömungsverhältnisse nicht angängig gewesen. Es sei verständlich, wenn ein Schiffer bestrebt sei, aus der Fährlinie herauszukommen und mit Rücksicht auf die Vorschrift des § 122 Nr. 1 RhSchPVO bei Hochwasser nach Überschreitung der Marke 1 nicht allzu nahe an das Ufer heranzugehen. Unter Berücksichtigung der Gesamtlage habe sich der Entschluss der Schleppzugführung, noch bis zu 100 m weit oberhalb der Fähre in einem Abstand von 40 bis 50 m vom sichtbaren Ufer langsam weiterzufahren, durchaus im Rahmen eines pflichtgemäßen, von verständigen Überlegungen bestimmten nautischen Ermessens gehalten. Da sich Talzug und Bergzug noch durch Blinklicht verständigt gehabt hätten, habe man auf dem Bergzug nicht erwarten können, dass der zunächst in Strommitte fahrende Talzug im hereinbrechenden Unwetter seinen Kurs derart nach Steuerbord, in Richtung des Bergzuges hin, ändern werde. Nach Aufhören der Verständigungsmöglichkeit zwischen „F" und „B" sei der Bergzug erst an der nächsten geeigneten Stelle anzuhalten verpflichtet gewesen. Diese sei aber erst ein ausreichendes Stück oberhalb der Fähre gewesen. Die Fahrzeugführer des Bergschleppzuges hätten nicht gegen § 80 Nr. 3, 4 RhSchPVO verstoßen. Die Feststellungen und Schlussfolgerungen im angefochtenen Urteil sind rechtlich einwandfrei. Die Revision vermag ihnen Beachtliches nicht entgegenzusetzen; sie berücksichtigt vor allem nicht, dass nach der Natur der Sache entsprechenden gesetzlichen Regelung der Bergfahrer bei unsichtigem Wetter die Fahrt länger fortsetzen kann als der Talfahrer (vgl. Kählitz, Verkehrsrecht auf Binnenwasserstraßen, RhSchPV § 80 Anm. 6).Ob die Anhänge des Talzuges ein Verschulden trifft, ist unerheb1ich. Hat das geschädigte Schiff den Zusammenstoß nicht verschuldet, so haften ihm die
Reeder der schuldigen Schiffe nicht anteilig gemäß § 92 BSchG, § 736 HGB, sondern als Gesamtschuldner nach § 92 BSchG, § 735 HGB in Verbindung mit dem entsprechend anzuwendenden § 840 BGB.


III. Mitverschulden der Führung von „B" am Sinken des Kahnes.
Durch die Schadensminderungspflicht wird die Eigenhaftung des Geschädigten begründet. Für die Feststellung der tatsächlichen Voraussetzungen, die die Eigenhaftung des Geschädigten begründen, ist § 286 ZPO ebenso maßgebend wie für die Feststellung der Tatsachen, die die Haftung des Schädigers begründen. Die Beweislast; für das Vorliegen dieser tatsächlichen Voraussetzungen trägt im Falle des § 254 Abs. 2 der Schädiger, wie sich aus der -Fassung dieser Vorschrift klar ergibt. Nach dieser Sonderregelung ist für eine entsprechende Anwendung des sonst für Schuldverhältnisse geltenden § 282 BGB kein Raum. Im vorliegenden Fall hat das Berufungsgericht aus dem Sachverhalt, soweit er festgestellt werden konnte, nicht die Überzeugung gewinnen können, dass Rettungsmaßnahmen zu einem Erfolg geführt hätten. Mit Recht hat es die Beklagten für beweisfällig erachtet. Von der Einholung des Gutachtens eines Bergungsunternehmens hat das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler abgesehen.

Jedenfalls hat das Berufungsgericht auch ein Verschulden der Besatzung von „B" hinsichtlich der unterlassenen Rettungsmaßnahmen ohne Rechtsirrtum verneint. Im Falle des § 254 Abs. 2 BGB ist der Schädiger auch für das Mitverschulden des Geschädigten beweispflichtig (RGZ 159, 257, 261)."