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II ZR 151/64 - Bundesgerichtshof (Berufungsinstanz Rheinschiffahrt)
Entscheidungsdatum: 05.05.1966
Aktenzeichen: II ZR 151/64
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Norm: § 49 BSchSO, § 52 Nr. 3 HeinSchPolVO
Gericht: Bundesgerichtshof Karlsruhe
Abteilung: Berufungsinstanz Rheinschiffahrt

Leitsätze:

1) § 49 BSchSO gilt nicht für die Ausfahrt aus einer Fluß- oder Kanalmündung in den Rhein.

2) Zur Frage der entsprechenden Anwendbarkeit des § 52 Nr. 3 RheinSchPolVO (Ausnahme von dem Verbot des Treibenlassens).

3) Zur nautischen Sorgfaltspflicht der Führer von gleichzeitig ein- und ausfahrenden Schiffen bei der Einmündung des Wesel-Datteln-Kanals in den Rhein.

Urteil des Bundesgerichtshofes

vom 5. Mai 1966

II ZR 151/64

(Rheinschiffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort/Rheinschiffahrtsobergericht Köln)

Zum Tatbestand:

Die Klägerin ist Ausrüsterin des einer holländischen Reederei gehörenden MTS O. Ihr sind von der Eignerin auch alle Ansprüche wegen Schadensersatzes abgetreten worden, die aufgrund einer Kollision mit dem MTS K geltend gemacht werden. Dieses der Beklagten zu 1 gehörende, vom Beklagten zu 2 geführte beladene Tankmotorschiff fuhr auf dem Wesel-Datteln-Kanal und beabsichtigte, nach Ausfahrt aus dem Kanal auf dem Rheinstrom zu Berg weiterzufahren. Hierbei kam es zu einer Kollision mit dem leeren MTS O, das backbords in Höhe des Raumes IV vom Vordersteven des MTS K beschädigt wurde. O befand sich auf Taltahrt und drehte bei km 813 auf, um sich anschließend sacken zu lassen und dann in den Wesel-Datteln-Kanal einzufahren.
Die Klägerin hat behauptet, daß MTS K, als O den Molenkopf mit seinem Vorschiff fast erreicht gehabt habe, plötzlich Kurs nach Backbord genommen und dadurch trotz sofortigen Zurückschlagens auf O dieses Schiff an Backbordseite erfaßt habe. K habe das Vorfahrtsrecht von O verletzt und zunächst am rechten Ufer talwärts fahren müssen, bevor es habe aufdrehen dürfen.
Die Beklagten behaupteten u. a., daß O oberhalb der Kanalmündung fehlerhaft aufgedreht und sich verbotenerweise habe sacken lassen. Dieses Schiff habe außerdem mit der Maschine zurückgeschlagen, ohne das hierbei vorgeschriebene akustische Signal zu geben.
Das Rheinschiffahrtsgericht hat die Klage in vollem Umfang, das Rheinschiffahrtsobergericht hat sie zur Hälfte dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. In der Sache sind die Revisionen beider Parteien zurückgewiesen worden.


Aus den Entscheidungsgründen:

„Nach § 49 BSchSO haben an der Einmündung einer Schiffahrtsstraße in eine andere Fahrzeuge auf der durchgehenden Schiffahrtsstraße die Vorfahrt. Die Parteien streiten darüber, ob diese Vorschrift für die Fluß- oder Kanalmündungen in den Rhein gilt oder nicht gilt. Das Rheinschiffahrtsgericht hat die Frage unter Berufung auf Kählitz, Verkehrsrecht auf Binnenwasserstraßen, Band II, BSchSO § 49, Anmerkung II, bejaht, das Rheinschiffahrtsobergericht hat sie verneint. Es braucht auf die verschiedenen Gründe, die für und gegen die Anwendung dieser Vorschrift, auch von der Revision und der Revisionserwiderung, angeführt werden, nicht eingegangen zu werden. Denn es ist allseits übersehen, daß diese Frage vom Gesetz ausdrücklich dahin geregelt ist, daß § 49 BSchSO für Einmündungen in den Rhein nicht gilt. Nach Art. 1 der VO zur Einführung der BSchSO vom 19. Dezember 1954 (BGB III 9501 - 2) gilt die Binnenschiffahrfstraßenordnung auf den Bundeswasserstraßen, die in den Sonderbestimmungen des zweiten Teiles der BSchSO aufgeführt sind. Im zweiten Teil Sonderbestimmungen für einzelne Binnenschiffahrtsfraßen" ist der Rhein nicht aufgeführt. Dagegen ist durch Art. 1 der VO zur Einführung der RhSchPVO die Rheinschiffahrtpolizeiverordnung auf der Bundeswasserstraße Rhein in Kraft gesetzt worden. Hierdurch ist das Geltungsgebiet der beiden Polizeiverordnungen klar abgegrenzt. § 49 BSchSO gilt nur, wenn eine Schiffahrtsstraße, die im II. Teil der BSchSO aufgeführt ist, in eine andere solche Schiffahrtsstraße einmündet, nicht aber, wenn sie in den Rhein mündet. Eine andere Regelung wäre auch nicht möglich gewesen, da der deutsche Gesetzgeber beim Erlag der Rheinschiffahrtpolizeiverordnung durch die internationalen Vereinbarungen der Uferstaaten (vgl. Wassermeyer, Der Kollisionsprozeß in der Binnenschiffahrt 3. Aufl. 5. 18 f) gebunden war, die eine dem § 49 BSchSO entsprechende Bestimmung nicht vorgesehen haben.

Mit Recht hat daher das Berufungsgericht nicht die Vorschrift des § 49 BSchSO, sondern die hier einschlägige Bestimmung des § 50 Nr. 3 RhSchPVO angewendet, die die Ausfahrt aus einer Kanalmündung in den Rhein, hier die Ausfahrt aus dem Wesel-Datteln-Kanal (Lippe-Seitenkanal), regelt. Diese Bestimmung regelt gerade das Verhalten der Schiffe, die sich in einem Kanal, der in den Rhein mündet, befinden und ausfahren wollen. Sie kann daher nicht mit der Erwägung der Revision, der örtliche Geltungsbereich der Rheinschiffahrtpolizeiverordnung sei auf den Rhein beschränkt, MTS K sei aber auf dem Kanal gefahren, abgetan werden.
Anläßlich eines Zusammenstoßes bei der Ruhrmündung hat der Senat in seinem Urteil vom 1. April 1965 II ZR 181/63 *) ausgeführt, ein den Hafenkanal verlassendes Schiff müsse so ausfahren, daß es in gestreckter Lage in ausreichender Entfernung von dem Molenkopf auf den Strom komme, um auf diese Weise rechtzeitig den Überblick auf Oberstrom zu bekommen. Nichts anderes kann für die Ausfahrt aus dem Wesel-Datteln-Kanal gelten. Eine solche nach nautischer Sorgfaltspflicht gebotene Ausfahrt bergwärts war aber, wie auch die Ausführungen der Anschlußrevision ergeben, für das 67 m lange MTS K kaum möglich. Zwar stellt das Berufungsgericht in anderem Zusammenhang fest, der Kanal sei in seiner Mündung etwa 80 m breit. Nach dem vom Wasser- und Schiffahrtsamt angeforderten Lageplan (Maßstab 1:5000), von dem das Berufungsgericht ausgeht, ist der Kanal die letzten 400 m vor dem Molenkopf 70 m breit und verbreitert sich anschließend bei seiner spitzwinkligen Einmündung in den Rhein. Hätte K dort, wo das Berufungsgericht eine Breite von 80 m annimmt, gedreht, so wäre das Schiff mit seinem Kopf bereits in den nach rechtsrheinisch gehenden Hang des Rheinstromes geraten; in ausreichender Entfernung vom Molenkopf und in gestreckter Lage den Strom zu gewinnen, wäre für das 67 m lange Schiff nicht möglich gewesen. K mußte also vorher zu drehen beginnen und hat das auch offensichtlich getan. Dann konnte aber das Schiff erst recht nicht in gestreckter Lage und in ausreichender Entfernung vom Molenkopf auf den Strom gelangen.
Als O über Steuer fahrend hinter der Mole hervorkam, war seine Einfahrtsabsicht erkennbar. K mußte daher sofort hart Steuerbordruder geben, um das rechte Ufer zu gewinnen und dem MTS O für die Einfahrt Platz zu machen. Hierdurch wäre, wie das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler annimmt, der Unfall vermieden worden. Selbst wenn O, vom Wind getrieben, an das im stillen Wasser nach Steuerbord drehende MTS K geraten wäre, wären die Folgen des Anstoßes erheblich geringer gewesen. Eine Berufung des beklagten Schiffsführers auf die für Maßnahmen des letzten Augenblicks geltenden Grundsätze kommt nach der Sachlage nicht in Betracht. Demnach hat das Berufungsgericht jedenfalls im Ergebnis zutreffend das Verschulden des beklagten Schiffsführers an der Herbeiführung des Zusammenstoßes festgestellt.

Nach § 52 Nr. 1 RhSchPVO ist das Treibenlassen ohne besondere Erlaubnis zu zuständigen Behörde verboten. Eine Ausnahme gilt nach Nr. 3 für kleine Bewegungen auf Reeden, Lade- und Löschplätzen. Es bestehen schon erhebliche Bedenken dagegen, die Ausnahmevorschriften auf andere Fälle, von Notfällen abgesehen, entsprechend anzuwenden. Keinesfalls darf sie in Fällen angewendet werden, wo das Treibenlassen eine Gefahren in sich bergende Lage herbeiführt. Das war hier der Fall. Entgegen der Ansicht der Revision gewährt die Vorschrift des § 52 Nr. 3 RhSchPVO dem auf dem Strom befindlichen Schiff kein unbedingtes Vorfahrtsrecht vor dem aus einem Kanal ausfahrenden. Vielmehr verlangt sie die Rücksichtnahme des auf dem Strom befindlichen Schiffes, das seine Geschwindigkeit vermindern oder seinen Kurs ändern muß und das jedenfalls seine nautische Sorgfaltspflicht verletzt, wenn ihm für diese Maßnahmen genügend Zeit zur Verfügung steht. Um dieser Pflicht zu genügen, darf sich ein Schiff nicht treiben lassen, wodurch seine Steuerfähigkeit beeinträchtigt wird.
Dazu kommt, daß ein sich zu Tal bewegendes Schiff nicht in einem Abstand von nur 20 m am rechten Ufer entlang fahren darf, wodurch ein rechtzeitiger Einblick in die Kanalmündung ausgeschlossen wird. Bei der nicht einfachen Verkehrslage (Ausfahrt aus einem spitzwinkelig in den Rhein mündenden Kanal) kann keiner der beiden Verkehrsteilnehmer sich auf den Vertrauensgrundsatz berufen. Jeder muß damit rechnen, daß er sich plötzlich einer gefährlichen Situation gegenüber befindet; etwas anderes könnte nur gelten, wenn die Verkehrslage eindeutig geregelt, etwa das Ausfahren zu Berg verboten wäre; das ist aber nicht der Fall; für kleinere Schiffe kann eine Ausfahrt zu Berg sogar ohne Verletzung nautischer Sorgfaltspflicht möglich sein und muß daher von einem Talfahrer in Rechnung gestellt werden. Hiernach ist im angefochtenen Urteil das Mitverschulden des klägerischen Schiffers an der Herbeiführung des Unfalls im Ergebnis zutreffend angenommen.

Nach den gesamten Umständen des Falles besteht kein Anlag, von dem gesetzlichen (§ 92 BSchG, § 736 Abs. 1 HGB) Grundsatz des im Zweifel gleich schweren Verschuldens abzugehen. Der Senat tritt daher der vom Berufungsgericht vorgenommenen Schadensverteilung zwischen den Schiffseignern im Verhältnis 1 :1 bei. Diese Verteilung erscheint auch im Verhältnis zwischen Klägerin und dem beklagten Schiffsführer angemessen, auf das § 254 BGB anzuwenden ist.