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II ZR 16/60 - Bundesgerichtshof (Berufungsinstanz Schiffahrt)
Entscheidungsdatum: 15.05.1961
Aktenzeichen: II ZR 16/60
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Bundesgerichtshof Karlsruhe
Abteilung: Berufungsinstanz Schiffahrt

Leitsatz:

Der Grundsatz, daß jedes Schiff davon ausgehen kann, daß andere Schiffe die schiffahrtpolizeilichen Vorschriften einhalten, entbindet nicht von der Verpflichtung, die Fahrweise voraus oder sonst in der Nähe befindlicher Fahrzeuge zu beobachten. Gegenüber einem sich möglicherweise verkehrswidrig verhaltenden Schiff sind zumutbare Gegenmaßnahmen zu treffen. Die Abwägung der Schwere des beiderseitigen Verschuldens ist mit der Revision angreifbar, wenn ihr rechtsirrtümliche Erwägungen zugrunde liegen, insbesondere nicht alle Umstände vollständig und richtig berücksichtigt worden sind.

 

Urteil des Bundesgerichtshofes

vom 15. Mai 1961

II ZR 16/60

Zum Tatbestand

Das bei der Klägerin versicherte MS „A" fuhr die Weser bei klarer Sicht und Flutstrom aufwärts und stieß bei Brake mit einer entgegenkommenden Schute zusammen, die von einem an ihr achtern und steuerbords festgemachten, dem beklagten Land Bremen gehörigen Motorschlepper „B" vorwärts bewegt wurde. Dieser Schleppzug war aus dem Braker Binnenhafen gekommen, hatte stromabwärts Kurs zum Ostufer genommen, das stromaufwärts fahrende MS „C" an Backbordseite passiert und dann - noch in der linken Fahrwasserhälfte – beim Herannahen von MS „A", als dieses auf Backbordkurs ging, Steuerbordsignal gegeben und war schließlich mit der Maschine „Voll zurück" gegangen, ohne daß ein Zusammenstoß vermieden werden konnte.
Die Klägerin verlangt Ersatz der an MS „A" entstandenen Schäden, weil sich Schlepper „B" mit der Schute im falschen Fahrwasser befunden und dieses nicht mit deutlichem Kurs verlassen habe, statt dessen so spitz gegen die in der Mitte des Fahrwassers befindliche Richtfeuerlinie gefahren sei, daß „A" ihn zunächst als stromaufwärts fahrendes und auf Backbordseite zu überholendes Schiff und bei der Sonnenblendung und Wasserspiegelung bis kurz vor dem Zusammenstoß als Gegenkommer habe ansehen müssen.
Das beklagte Land hat ein Verschulden - jedenfalls im überwiegenden Umfang - bestritten. Der Schlepper habe nicht so weit zum östlichen Ufer fahren können, um mit der voll beladenen Schute nicht aus dem Ruder zu kommen und abgetrieben zu werden. Bei Verwendung von Sonnenbrille und Fernglas sei die tatsächliche Lage von „A" aus klar zu übersehen gewesen. Außerdem habe der Kapitän von „A" die Führung des Schiffes im Braker Revier nicht dem Leichtmatrosen überlassen dürfen.
Das Landgericht hat der Klage zu ein Drittel, das Oberlandesgericht nur zu ein Fünftel dem Grunde nach stattgegeben.

Auf die Revision der Klägerin ist ihr Anspruch vom Bundesgerichtshof zur Hälfte für gerechtfertigt erklärt.

Aus den Entscheidungsgründen

Zu den durch die seemännische Praxis gebotenen Vorsichtsmaßnahmen (§ 4 Abs. 4 SSchStrO) gehört insbesondere die Beobachtung eines voraus oder sonst in der Nähe befindlichen Fahrzeuges, dessen Fahrweise für das eigene Verhalten bedeutsam werden kann. Der Grundsatz, daß jedes Schiff zunächst davon ausgehen kann, daß andere Schiffe die Seestraßenordnung und Seeschiffahrtsstraßenordnung einhalten (Schaps § 735 Anm. 28), entband die Führung von MS „A" nicht von der Pflicht zu dieser Beobachtung. MS „A" durfte von ihr nicht absehen, weil es sich nicht darauf verlassen durfte, auf der ihm zustehenden Fahrwasserseite (§ 35 SSchStrO) überhaupt keine Fahrzeuge mit Gegenkurs anzutreffen. Auch gegenüber einem sich möglicherweise verkehrswidrig verhaltenden Schiff waren die zumutbaren Gegenmaßnahmen zu treffen (Schaps § 736 Anm. 21). Auf erkennbare Verstöße des anderen Fahrzeuges war Rücksicht zu nehmen (Wassermeyer, Kollisionsprozeß S. 104). Durch sorgfältige Beobachtung war festzustellen, ob es sich in der Nähe der Verladebrücke und der Hafenausfahrt Brake bei dem Schlepper nicht doch um ein langsames, querendes Fahrzeug handelte. Der Backbordkurs als Vorbereitung eines Überholmanövers durfte jedenfalls nur eingeschlagen werden, nachdem sich MS „A" vergewissert hatte, daß der Schlepper nebst Schute weseraufwärts fuhr.
Ein für den Unfall ursächliches Verschulden der Führung von MS „A" ist daher vom Berufungsgericht ohne Rechtsirrtum angenommen worden.
Die Revision rügt in zweiter Linie, das Berufungsgericht sei bei der Abwägung der Schwere des beiderseitigen Verschuldens nicht richtig verfahren. Diese Prüfung liegt zwar im wesentlichen auf tatsächlichem Gebiet, ist aber mit der Revision angreifbar, wenn ihr rechtsirrtümliche Erwägungen zugrunde liegen, insbesondere nicht alle Umstände vollständig und richtig berücksichtigt worden sind (BGHZ 20, 290, 293 für § 254 BGB). Das ist hier der Fall. Da die Sachlage in den entscheidenden Punkten geklärt ist, kann das Revisionsgericht die nach §§ 736, 739 HGB erforderliche Abwägung selbst vornehmen (BGH VersR 1960, 991).

Das Berufungsgericht meint, dem Schlepper könne nur vorgeworfen werden, daß er zu lange im falschen Fahrwasser geblieben und dort zu spitz gefahren sei. Das geschilderte Verschulden der Besatzung des MS „A" sei wesentlich schwerer, so daß der Kläger nur ein Fünftel des Schadens beanspruchen könne. Das Berufungsgericht beachtet bei dieser Würdigung nicht, daß der Schlepper ausdrücklichen Vorschriften zuwider gehandelt hat, die eine Kollisionsgefahr von vornherein verhüten sollen. Der Schlepper verstieß durch seine Fahrweise gegen §§ 35, 38 SSchStrO, indem er im falschen Fahrwasser fuhr oder jedenfalls das Weserfahrwasser derart querte, daß die durchgehende Schifffahrt behindert wurde.
Es ist eine Grundregel, im engen Fahrwasser (Art. 25 SStrO) und auf Seeschiffahrtsstraßen (§ 35 SSchStrO) die Steuerbordseite des Fahrwassers zu halten und es nur so zu queren, daß die durchgehende Schiffahrt nicht behindert wird (§ 38 SSchStrO). Diese Vorschriften sollen die Gefahr eines Zusammenstoßes nach Möglichkeit gar nicht aufkommen lassen (Budde/Koch, SStrO Art. 25 Anm. 101). Ihre Beachtung ist daher das oberste Gebot der für den Verkehr erforderlichen nautischen Vorsicht (RGZ 67, 49, 50).
Es erscheint hiernach rechtsirrtümlich, das Verschulden des Schleppers nur mit ein Fünftel zu bewerten. Grundsätzlich ist sogar derjenige Beteiligte, der die Kollisionsgefahr geschaffen hat, für überwiegend schuldig zu halten (RGZ 67, 49).
Andererseits hat MS „A" ebenfalls den Zusammenstoß mit erheblichem Verschulden herbeigeführt. Bevor es Backbordruder gab, um das vermeintliche Überholmanöver einzuleiten, mußte es sich durch sorgfältige Beobachtung, bei der nötigenfalls Sonnenbrille und Fernglas zu Hilfe zu nehmen waren, vergewissern, welchen Kurs der Schlepper steuerte.

Bei der Abwägung kann nicht wesentlich ins Gewicht fallen, daß der Kapitän des MS „A" unter Deck war und dem Zeugen D das Ruder überlassen hatte. Dieser besaß im übrigen, wie die im Tatbestand in Bezug genommenen Akten des Seeamts ergeben, das Patent A 1 und hat jahrelang ein eigenes Schiff auf der Weser geführt sowie auch dem Seeamt ein Attest des Vertrauensarztes über seine ausreichende Sehfähigkeit vorgelegt. Ein besonders schwieriges Manövrieren, das die Anwesenheit des Kapitäns an Deck erforderte,' war nicht zu erwarten.
Ferner kann für die Schwere des Verschuldens auf der Seite des MS „A" der Tatsache keine Bedeutung beigemessen werden, daß MS „A" auf das Steuerbordsignal des Schleppers nicht „Voll rückwärts" gegeben hat.
Das Berufungsgericht unterstellt, daß der Zeuge D infolge Bestürzung oder Aufregung die Maschine nicht auf „Voll zurück" beorderte. Die Unterlassung des Maschinenmanövers und die Beschränkung auf Rudermanöver muß daher als eine im letzten Augenblick getroffene, nicht schuldhafte Fehlentschließung in einer vom Kollisionsgegner geschaffenen gefahrvollen Lage betrachtet werden (Schaps, § 735 Anm. 17, 18; BGH VersR 60, 82 = Hansa 1960, 237; VersR 60, 328).

Bei einer Gesamtbetrachtung erscheint das Verschulden des MS „A" durch unzureichende Beobachtung des voraus befindlichen Fahrzeuges vor Beginn einer Kursänderung in einem mit besonderer Vorsicht zu befahrenden Abschnitt (vgl. § 32 SSchStrO) aber doch so erheblich, daß es dem Verschulden des Schleppers gleichkommt. Nach Ansicht des Senats haben MS „A" und der Schlepper durch ein gleich schwer zu bewertendes Verschulden den Unfall verursacht. Bei den besonderen Umständen des Falles besteht kein Anlaß, das Verschulden des falsch fahrenden Schleppers als schwerer anzusehen.