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II ZR 173/64 - Bundesgerichtshof (Berufungsinstanz Schiffahrt)
Entscheidungsdatum: 13.10.1966
Aktenzeichen: II ZR 173/64
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Bundesgerichtshof Karlsruhe
Abteilung: Berufungsinstanz Schiffahrt

Leitsätze:

1) Der Grundsatz, daß der Geschädigte beweisen müsse, das schädigende Handeln oder Unterlassen dürfe nicht hinweggedacht werden können, ohne das gleichzeitig der Erfolg entfalle (condition sine qua non), darf, wenn das haftungsbegründende Ereignis feststeht, nicht auf hypothetische Schadensursachen ausgedehnt werden.

2) Ein gedachter (hypothetischer) Ursachenverlauf darf jedenfalls dann nicht zugunsten des Schädigers berücksichtigt werden, wenn der Verlauf, hätte er sich in Wirklichkeit ereignet, einen Schadensersatzanspruch des Geschädigten gegen einen Dritten ausgelöst hätte.

Urteil des Bundesgerichtshofes

vom 13. Oktober 1966

II ZR 173/64

(Schiffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort/Schifferobergericht Köln)

Zum Tatbestand:

Das Boot D schleppte den leeren, der Klägerin gehörenden Kahn F auf erster Länge und den mit Erz beladenen Kahn M auf zweiter Länge zu Berg in die Schleuse 1 des Rhein-Herne-Kanals ein. Kahn F machte dicht hinter dem Boot fest. Nachdem der vom Kahn M in Höhe der 19-m Marke um den Poller des dort in der Schleuse befindlichen Haltekreuzes gelegte Draht teilweise gerissen war, brach das Haltekreuz ab, dessen einer seitliche Haltearm schon vorher einen Riß hatte. Der Versuch, den Kahn am Haltekreuz der 64-m-Marke abzustoppen, war erfolglos. Kahn M beschädigte infolgedessen mit seinem Bug das Ruderwerk von F.
Die Klägerin verlangt von der beklagten Wasser- und Schiffahrtsdirektion Ersatz des Schadens, weil letztere die Schleuse zu unterhalten, aber nicht für den ordnungsgemäßen Zustand des Haltekreuzes gesorgt habe.
Die Beklagte bestreitet eine Haftpflicht; vielmehr sei der Unfall auf zu schnelles Einfahren von M in die Schleuse, auf zu spätes und unsachgemäßes Abstoppen und mangelhaften Zustand der Drähte und Schiffspoller zurückzuführen.
Der Klage wurde in den Vorinstanzen in vollem Umfang stattgegeben. Die Revision der Beklagten blieb erfolglos.

Aus den Entscheidungsgründen:

Es steht fest, daß die Standfestigkeit des Haltekreuzes geringer war als die Festigkeit des darum gelegten Drahtes.
Denn sonst wäre der ganze Draht gerissen, ohne daß das Haltekreuz gebrochen wäre; zum mindesten wären das Reißen des ganzen Drahtes und der Bruch des Kreuzes gleichzeitig erfolgt. Damit steht aber auch fest, daß der Bruch des Kreuzes im logisch-naturwissenschaftlichen Sinn die Beschädigung des Ruderwerkes herbeigeführt hat. Insoweit kommt es auf die Beweislast nicht an.
Es bleibt aber denkbar, daß der Draht schadhaft gewesen ist und, wenn das Haltekreuz intakt gewesen wäre, dem Druck nicht standgehalten und die Fahrt von M nicht so stark abgebremst hätte, daß der Schadensfall nicht eingetreten wäre.
Die Revision hält das für erheblich und meint: Die Haftung der Beklagten setze einen Ursachenzusammenhang im Sinne der Bedingungstheorie (conditio sine qua non) und einen Adäquanzzusammenhang voraus. An beidem fehle es. Das Berufungsgericht habe die Beweislast verkannt, wenn es diese der Beklagten dafür aufbürde, daß sich der eingeklagte Schaden auch dann ereignet haben würde, wenn das Haltekreuz an der 49-m-Marke intakt gewesen wäre.
Dem kann nicht gefolgt werden.
Der Grundsatz, der Geschädigte habe als zum Klagegrund gehörig ein Ereignis zu beweisen, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der eingetretene Erfolg entfällt, kann da keine Geltung beanspruchen, wo ein lediglich gedachter, nicht Wirklichkeit gewordener, hypothetischer Geschehensablauf den gleichen Schaden herbeigeführt haben würde wie der reale Geschehensablauf. Denn der Wirklichkeit gewordene Geschehensablauf hat den Schaden tatsächlich herbeigeführt und damit zugleich verhindert, daß der gleiche Schaden noch auf eine andere Weise entstehen konnte.
Das schadhafte Haltekreuz hat verhindert, daß die angebliche Mangelhaftigkeit des Drahtes, die angeblich zu hohe Fahrtstufe beim Einfahren in die Schleuse und (oder) die angeblichen Versehen beim Abstoppen von M wirksam werden konnten, mögen auch alle diese Umstände den gleichen Schaden wie den eingetretenen haben herbeiführen können.
In allen diesen Fällen kann das bloß gedachte, nicht verwirklichte Ereignis keine Grundlage für einen Schadensersatzanspruch abgeben, weil es für einen schon anderweit eingetretenen Schaden nicht mehr ursächlich werden kann. Das muss auch bei der Beweislast in den Fällen beachtet werden, in denen der hypothetische Verlauf rechtlich von Bedeutung ist. Der Geschädigte kann nicht die Beweislast dafür haben, daß der Schaden, für den jemand verantwortlich ist, ohne den schadenstiftenden Umstand und unabhängig von ihm nicht infolge eines anderen Umstandes ebenfalls eingetreten wäre (BGH VersR 1959, 811, 812).

Hätte das Haltekreuz dem Zug standgehalten und wäre M wegen Reißens des Drahtes an den Fendel-Kahn geraten, so hätte die Klägerin ihren Schadensersatzanspruch gegen den Eigner und den Führer des M. Kahnes gehabt, der in einem Rechtsstreit erfolgreich hätte geltend gemacht werden können. Denn der Beweis des ersten Anscheins hätte dafür gesprochen, daß entweder M zu schnell in die Schleuse eingefahren ist oder der Draht nicht ordnungsgemäß gefiert wurde oder schadhaft war. In allen diesen Fällen hätte der Anscheinsbeweis für ein unfallursächliches Verschulden des Kahnführers Platz geschaffen. Weil aber das Haltekreuz gebrochen und der Draht nicht völlig gerissen ist, ist ein solcher Anscheinsbeweis nicht gegeben. Die Klage gegen Eigner und Führer von M ist tatsächlich auch rechtskräftig abgewiesen worden. Der Schaden der Klägerin besteht also auch darin, daß sie wegen des Bruches des Haltekreuzes einen Schadensersatzanspruch gegen Eigner oder Besatzung von M nicht mit Erfolg durchführen konnte. Dieser Schaden ist eine Folge des Bruches des Haltekreuzes.

Es liegt durchaus im Bereich der Lebenserfahrung, daß beim Bruch eines Haltekreuzes in einer Schleuse ein Schiff auf ein anderes auffährt. Es liegt auch nicht außerhalb des Bereiches der Lebenserfahrung, daß infolge des Bruches eines Haltekreuzes der Eigner des angefahrenen Kahnes Schadensersatzanspruch gegen den Anfahrenden nicht mit Erfolg geltend machen kann. In beiden Fällen ist daher der adäquate Kausalzusammenhang zwischen dem Bruch des Haltekreuzes und dem Schaden der Klägerin gegeben.
Das Berufungsgericht hat aus der Beweisaufnahme und den Umständen die Überzeugung gewonnen, daß durch pflichtwidriges Unterlassen der schadhafte Zustand herbeigeführt worden ist. Dabei ist ihm kein Rechtsfehler unterlaufen. Im angefochtenen Urteil wird ausgeführt:
Die Haltekreuze in den Schleusen böten die bestimmungsgemäße und nahezu einzige Möglichkeit, die vom Schiffer in die Schleuse gezogenen Kähne rechtzeitig abzustoppen und an der für sie vorgesehenen Stelle festzulegen. Sie mühten daher so beschaffen sein, daß sie auch ungewöhnlichen Belastungen durch fehlerhafte Abstoppmanöver gewachsen wären; eher müsse der Stoppdraht reihen, als daß das Haltekreuz abbreche. Die laufende Überwachung wichtiger Einrichtungen müsse durch generelle Anordnung der Organe der Wasser- und Schiffahrtsverwaltung sichergestellt werden. Daran habe es, wie die Beklagte nicht bestreite, gefehlt, weil man zu Unrecht eine solche regelmäßige Überwachung weder für erforderlich noch für zumutbar gehalten habe. Die Beklagte habe selbst auf „zahllos verbogene und beschädigte Polier" hingewiesen, ohne daraus den Schluß auf die Notwendigkeit einer regelmäßigen und sorgfältigen Kontrolle zu ziehen. Bei einer solchen Kontrolle hätte der alte Bruch in dem seitlichen Haltearm nicht unentdeckt bleiben können; denn der Haltearm sei schon vor dem Unfall zum größeren Teil durchgerissen gewesen.
Da nicht ein äußerlich nicht erkennbarer Haarriß zum Bruch geführt hat, liegen keine besonders eigenartige, ganz unwahrscheinliche und nach dem regelmäßigen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassende Umstände vor, die zum Bruch geführt haben. Die Lebenserfahrung spricht dafür, daß bei regelmäßigen und sorgfältigen Kontrollen der Riß rechtzeitig entdeckt worden wäre.
Hiernach hat das Berufungsgericht mit Recht ein pflichtwidriges und unfallursächliches Unterlassen der Beklagten angenommen. Gegen seine weitere Annahme, dieses Unterlassen sei fahrlässig gewesen, bestehen ebenfalls keine rechtlichen Bedenken.
Da die Beklagte wegen Verletzung ihrer Verkehrssicherungspflicht haftet, bedarf es keiner Erörterung, ob sich ihre Haftung auch aus § 836 BGB ergäbe.