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II ZR 208/58 - Bundesgerichtshof (Berufungsinstanz Rheinschiffahrt)
Entscheidungsdatum: 12.05.1960
Aktenzeichen: II ZR 208/58
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Bundesgerichtshof Karlsruhe
Abteilung: Berufungsinstanz Rheinschiffahrt

Leitsatz:

Beim Zusammentreffen von überholen und Begegnen hat, sofern für beide gleichzeitige Manöver nicht unzweifelhaft hinreichend Raum vorhanden ist, der Gegenfahrer gegenüber dem Überholer das Vorrecht. Beweislastfragen, wenn ein Schiff überholt und ein Gegenfahrer im Zusammenhang mit diesem überholen auf Grund gerät.

 

Urteil des Bundesgerichtshofes

vom 12. Mai 1960

II ZR 208/58

Zum Tatbestand:

Kläger sind die Eigentümer von 3 Schleppkähnen B, C und D, die im Schlepp des Bootes A linksrheinisch zu Tal fuhren, und zwar auf erster Länge steuerbords der beladene Kahn B, bachbords der leere Kahn C, auf 2. Länge allein Kahn D (ebenfalls leer). Diesem Talschleppzug begegnete in Höhe von Lorchhausen der rechtsrheinisch fahrende Bergschleppzug E mit 2 Anhängen, der seinerseits an Steuerbordseite von dem
Schleppzug F - bestehend aus dem der Bekl. zu 1 gehörenden, vom Bekl. zu 2 geführten Motorschiff F, dem Vorspannboot G und dem dem Nebenintervenienten gehörenden und von ihm geführten Kahn H - überholt wurde. Kahn B rakte kurz nach der Begegnung mit Kahn H auf dem linksrheinisch gelegenen Lorchhausener Grund und blieb auf ihm zusammen mit Kahn C stehen, auf dessen Achterschiff auch noch Kahn D auffuhr. Neben leichteren Schäden von C und D erlitt Kahn B schweren Schaden.
Die Kläger behaupten, daß der Bekl. zu 2 an der vorgenannten Stelle nicht habe überholen dürfen. Durch sein Überholmanöver sei der Talweg so eingeengt worden, daß die Anhänge nicht von dem Grund hätten freigefahren werden können. Anhangkahn H habe dabei den A-Schleppzug behindert.
Die Beklagten und der Nebenintervenient bestreiten dies Vorbringen. Nach Ansicht der Beklagten trage im übrigen Kahn H selbst die Verantwortung für den von ihm gewählten Kurs, da er als Anhang 120 m hinter dem MS F gefahren sei und daher eigene Steuerfähigkeit besessen habe.
Die Klage blieb vor dem Rheinschiffahrtsgericht und dem Rheinschiffahrtsobergericht erfolglos. Auf die Revision der Kläger ist die Sache unter Aufhebung des Berufungsurteils an die Vorinstanz zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Aus den Entscheidungsgründen:

Nach § 37 Nr. 1 RhSchPVO ist das Begegnen und Überholen nur gestattet, wenn das Fahrwasser unter Berücksichtigung aller örtlichen Umstände und des übrigen Verkehrs unzweifelhaft hinreichenden Raum für die Vorbeifahrt gewährt. Nach § 42 Nr. 1 ist das Überholen nur gestattet, nachdem der Uberholende sich vergewissert hat, daß dieses Manöver ohne Gefahr durchgeführt werden kann. Der Überholende hat danach zu beweisen. daß für das Überholen unzweifelhaft hinreichender Raum zur Verfügung stand. Das galt schon nach § 43 Nr. 1 RhSchPVO aF. Hieran hat sich durch die Neufassung nichts geändert.
Treffen, wie im vorliegenden Fall, Überholen und Begegnen zusammen und ist für beide gleichzeitige Manöver nicht unzweifelhaft hinreichend Raum vorhanden, so hat das Vorrecht der Gegenfahrer. Der Überholende muß zurückstehen, hat also das Uberholungsmanöver zu unterlassen oder abzubrechen. Das zeigt schon die natürliche Betrachtungsweise, da die Flüssigkeit des Verkehrs es erfordert, daß in erster Linie der gleichzeitige Berg- und Talverkehr aufrechtzuerhalten ist und erst in zweiter Linie ein Interesse daran besteht, daß Berg- und Talverkehr, je für sich betrachtet, zügig vonstatten gehen sollen. Dazu kommt, daß auch im Schiffahrtsverkehr Sicherheit vor Schnelligkeit geht. Während das Unterlassen des Überholens in aller Regel keinerlei Gefahr mit sich bringt, kann das Anhalten der Fahrt, insbesondere für den Talfahrer, unter Umständen aber auch für den Bergfahrer, schwierig und sogar gefahrvoll sein.
Hieraus folgt, daß beim Zusammentreffen von Überholen und Begegnen der Überholende und nicht der Gegenfahrer die Voraussetzung des unzweifelhaft hinreichenden Raumes zu beweisen hat. Diese Ausnahmeregelung von dem allgemeinen Grundsatz, daß der Geschädigte das Verschulden des Schädigers zu beweisen hat (vgl. § 92 BSchG, § 734 f. HGB), hat ihren inneren Grund gerade darin, daß der Überholende das „geringste Recht" hat, er das „Vorrecht" sowohl des Vorausfahrenden als auch des Gegenfahrers gewissenhaft und sorgfältig beachten muß. Soweit aus den Ausführungen bei Wassermeyer, der Kollisionsprozeß in der Binnenschiffahrt, 2. Aufl. S. 207, und aus dem von dem Verfasser daselbst Anmerkung 17 zitierten Urteil des Oberlandesgerichts Koblenz hinsichtlich begegnender Schiffe etwas anderes entnommen werden könnte, kann dem nicht beigetreten werden.

Steht fest, daß ein Uberholen stattgefunden hat - dessen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Unfall im Streitfall zu beweisen hat, wer sich darauf beruft (BGH VersR 1957, 148) -, so obliegt dem Überholenden der Beweis für alle den hinreichenden Raum bestimmenden Umstände, z. B. für die Fahrwasserbreite und damit den sie bestimmenden Wasserstand, für die Strömungsund Windverhältnisse, für den Standort der in dem Raum befindlichen Fahrzeuge. Daraus ergibt sich, daß für die Entlastung des Uberholenden nicht die Feststellung ausreicht, daß an der betreffenden Stelle sich regelmäßig Uberholvorgänge abspielen, da die Zulässigkeit des Überholens nur nach den konkreten Umständen des Einzelfalles beurteilt werden kann.
Steht fest, daß hinreichender Raum für die Vorbeifahrt vorhanden, das Überholen also erlaubt ist, so greift wieder die allgemeine Regel ein, daß der Geschädigte das ursächliche Verschulden des Schädigers zu beweisen hat, wobei ihm unter Umständen die Regeln über den Anscheinsbeweis zu Hilfe kommen. Dies hat der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 14. Februar 1957 II ZR 332/57 (VersR 1957, 194) zum Ausdruck gebracht: Auch in der Rheinschiffahrt besteht kein Rechtssatz, daß der Überholende die Gefahr des Überholmanövers in dem Sinn zu tragen habe, daß er sich im Falle des Zusammenstoßes mit dem zu Überholenden stets entlasten müßte. Das gilt auch beim Zusammenstoß mit einem Gegenfahrer oder der Fernschädigung eines solchen. Der geschädigte Gegenfahrer (oder der geschädigte Vorausfahrende) hat daher seine Behauptung zu beweisen, der Überholende habe sich beim Überholen nautisch fehlerhaft verhalten, z. B. er sei zu nahe an den Vorausfahrenden herangefahren oder habe dem Gegenfahrer nicht genügend Platz gelassen. Behauptet der Gegenfahrer, er sei von dem überholenden Schiff fehlerhaft abgedrängt worden, so hat dies, wenn unzweifelhaft hinreichender Raum für das Überholen zur Verfügung steht, mit dem Überholvorgang als solchem nichts zu tun; die Beweislage ist dann nicht anders, als wenn das fahrende Schiff überhaupt kein anderes Fahrzeug überholt, aber dem Gegenfahrer nicht genügend Platz gelassen hat (vgl. § 38 Nr. 1 Satz 2).
Wenn das Berufungsgericht auf Grund eigener Sachkunde zu der Ansicht kommt, 35-40 m hätten dem Talzug für die Durchfahrt auf jeden Fall genügen müssen, so fehlt hierfür eine für die revisionsrichterliche Nachprüfung genügende Begründung, die auch nicht dadurch ersetzt wird, daß das Wasser- und Schiffahrtsamt schon 30 m für voll ausreichend gehalten hat.
Es erscheint sehr fraglich und bedarf eingehender sachverständiger Prüfung, ob bei dem linksrheinischen Hang, der durch den hohen Wasserstand noch verstärkt wurde, eine gefahrlose Vorbeifahrt an dem vorspringenden Grund gewährleistet war. Aber auch die Hinlänglichkeit eines solchen Abstandes gegenüber dem überholenden Bergzug des Beklagten erscheint nicht zweifelsfrei, da der Beklagte selbst, was die Revision als nicht berücksichtigt rügt, seinen Abstand zum zweiten Anhangsschiff des vorausfahrenden „E"-Zuges mit 12 m angegeben hat, diesen Abstand also offensichtlich für notwendig hielt, und der Führer des Talzuges bei seinem Kurs in Rechnung stellen mußte, daß der Kahn „H" der Hangwirkung ausgesetzt war. Das Berufungsurteil muß daher mangels ausreichender Begründung aufgehoben werden.