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II ZR 210/64 - Bundesgerichtshof (Berufungsinstanz Rheinschiffahrt)
Entscheidungsdatum: 17.11.1966
Aktenzeichen: II ZR 210/64
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Bundesgerichtshof Karlsruhe
Abteilung: Berufungsinstanz Rheinschiffahrt

Leitsatz:

Zur Sorgfaltspflicht eines auf dem Rhein im dichten Hebel mit Radar fahrenden Schiffes.

Urteil des Bundesgerichtshofes

vom 17. November 1966

II ZR 210/64

(Rheinschiffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort/Rheinschiffahrtsobergericht Köln)

Zum Tatbestand:

Das der Streithelferin gehörende Schleppboot A kam mit 2 beladenen Kähnen auf 1. Länge und mit 2 leeren Kähnen auf 2. Länge zu Tal. Als der Schleppzug wegen starken Nebels bei Grau-Rheindorf aufdrehte, kollidierte der auf 2. Länge backbords fahrende Kahn H der Klägerin mit dem beladenen, zu Berg mit Radar fahrenden MS P des Beklagten, dessen Bug gegen das Achterschiff des querliegenden Kahnes H geriet und diesen schwer beschädigte. Das Motorschiff erlitt nur unerhebliche Schäden.
Die Klägerin verlangt Ersatz der Schäden an Kahn H, weil MS P nicht die nach § 46 Nr. 3 RhSchPVO erforderliche Rücksicht auf das Aufdrehmanöver genommen habe. Die Streithelferin hat sich dem Antrag und Vorbringen der Klägerin angeschlossen. Die Beklagte bestreitet ein Verschulden. Der Talschleppzug habe nicht in die weithin sichtbare Nebelwand hineinfahren und nicht mitten im Nebel aufdrehen dürfen. Statt dessen habe der Kahn der Klägerin mit oder ohne Anweisung des Schleppzugführers vorher loswerfen müssen.
Rheinschiffahrtsgericht und Rheinschiffahrtsobergericht haben die Klage abgewiesen. Auf die Revision der Streithelferin wurden die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben und die Klage dem Grunde nach in vollem Umfang für gerechtfertigt erklärt.

Aus den Entscheidungsgründen:

Nach der am Unfalltag geltenden, auf Grund § 102 Nr. 3 RhSchPVO erlassenen Anordnung (Mitteilungsblatt an die Rheinschiffahrt Nr. 60 vom 28. Dezember 1961) dürfen bei unsichtigem Wetter (§ 80 RhSchPVO) die mit Radar fahrenden Schiffe bei der Entscheidung der Frage der Fahrtfortsetzung und bei der Bemessung der Geschwindigkeit die Radarortung als nautisches Hilfsmittel berücksichtigen, jedoch nur insoweit, als die Sicherheit anderer Fahrzeuge nicht gefährdet wird; sie müssen insbesondere der verminderten Sicht der Schiffsführer anderer Fahrzeuge Rechnung tragen. Das Fahren mit Radar bei unsichtigem Wetter birgt erheblich größere Gefahren in sich als das sonstige Fahren, auch das Fahren bei Nacht. Im Bildschirm des Radargerätes können die in der Rheinschiffahrtpolizeiverordnung vorgeschriebenen optischen Zeichen und Lichter nicht erkannt werden. Dazu kommt, dass bei Fahrten im dichten Nebel, wie das Berufungsgericht zutreffend ausführt, der Nebel sehr leicht Schallsignale verschluckt und daher auch die Wahrnehmlichkeit dieser Signale beeinträchtigt wird. Da die Einrichtung eines Radargerätes nicht vorgeschrieben ist, tritt ein weiteres hohes Gefahrenmoment hinzu, dass andere Fahrzeuge ohne Radar weit weniger Sicht als das Radarfahrzeug haben und sich daher unter Umständen auf die Lage und Fahrweise des Radarfahrzeuges nicht einstellen können. Damit entfallen bei Radarfahrten ganz wesentliche Sicherheitsvorkehrungen, die die Rheinschiffahrtpolizeiverordnung zur Sicherheit des Schiffsverkehrs anordnet. Dieser erheblichen Gefahrensteigerung kann nur durch Beobachtung äußerster Sorgfalt des Radarfahrers begegnet werden. Die Sicherheit des Verkehrs hat Vorrang vor seiner Schnelligkeit. Die Rheinschiffahrtsgerichte werden ihrer Aufgabe, diesem Grundsatz Geltung zu verschaffen, nicht gerecht, wenn sie den Radarfahrer mit dem Malistab der üblichen Sorgfaltspflicht messen. Der Wegfall wesentlicher Sicherheitsvorkehrungen der Rheinschiffahrtpolizeiverordnung liegt im Verantwortungs- und Gefahrenbereich des Radarfahrers. Dem entspricht seine äußerste Sorgfaltspflicht. Bei seinen nautischen Überlegungen muß er mögliche Gefahren, die bei Fortsetzung seiner Fahrt zwischen ihm und anderen Fahrzeugen entstehen können, aufspüren und, wenn auch nur sehr geringe Zweifel über die Gefahrlosigkeit seiner Weiterfahrt bestehen, sofort das Fahrwasser freimachen und anhalten oder, wenn er Talfahrer ist, aufdrehen, soweit dies möglich ist; ist es nicht möglich, muß er kopfvor länden.

Diesen Grundsätzen, die für den Radarfahrer in der Rheinschiffahrt gelten, trägt das angefochtene Urteil nicht Rechnung. Aus dem eigenen Vorbringen der Beklagten und den Aussagen der Besatzung ihres Schiffes, von denen das Berufungsgericht ausgeht, ergibt sich ein Verschulden der Führung des, mit Radar fahrenden MS P. Die Führung dieses Bergfahrers hat im Radarschirm auf 800 m Entfernung einen langen zu Tal kommenden Gegenstand festgestellt; sie hat ihn als Schleppzug erkannt, ohne die Anzahl seiner Anhänge ausmachen zu können. Unter weiterem Beigehen zum linken Ufer wurde die Geschwindigkeit auf etwa 4 km/h herabgesetzt. Diese nautischen Maßnahmen waren bei der Verkehrslage ungenügend und fehlerhaft; dabei hat die Führung von MS P die unter den gegebenen Umständen gebotene (§ 276 BGB, § 4 RhSch PVO) äußerste Sorgfaltspflicht verletzt. Bei Insichtkommen des Talzuges auf diese Entfernung entstand eine Gefahrenlage. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts durfte man auf MS P nicht einstweilen davon ausgehen, der Talzug, dessen Beschaffenheit nicht näher festzustellen war, werde sich so verhalten, wie man das auf MS P ohne Kenntnis der Umstände, unter denen der Entgegenkommer seine Fahrt fortsetzte, vermutete. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts konnte der Bergfahrer nicht annehmen, der Talfahrer fahre ebenfalls mit Radar. Man konnte weder davon ausgehen, daß es sich um einen Schubzug handele (gegen dessen Weiterfahrt im dichten Nebel entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts im übrigen ebenfalls Bedenken bestanden hätten), noch davon, dass der in Strommitte, eher mehr linksrheinisch fahrende Talzug über genügende Sicht verfüge; auch nicht davon, der Talzug werde seine Fahrt fortsetzen, weil man kein Wendesignal hörte. Vielmehr mußte auf MS P mit folgendem gerechnet werden: Der entgegenkommende Schleppzug kann aus einem Boot mit zwei Längen bestehen, wobei ein Anhangkahn bis zu 100 m Länge haben kann; er kann auch aus einem schleppenden Motorschiff mit langem Anhang bestehen. Möglicherweise fährt der Schlepper ohne Radar. Der Talzug kann gefährliche Güter i. S. des § 36 RhSchPVO befördern. Der Talzug kann wegen plötzlichen Nebeleinfalls oder wegen Behinderung durch andere fahrende oder liegende Schiffe nicht rechtzeitig aufdrehen. Es kann sein, daß er aus besonderen Gründen nicht kopfvor länden kann oder daß der Schleppzugführer unter Verletzung seiner nautischen Pflicht dem Anhang oder den Anhängen keine Weisung zum Loswerfen gibt oder dass der Anhang oder die Anhänge einer solchen Weisung nicht rechtzeitig nachkommen, unter Umständen auch nicht nachkommen können. Es ist möglich, daß der Talzug das Bergfahrzeug nicht erkennen kann.

Es kann demnach sein, dass der Talzug aufdrehen wird, sobald er die am linken Ufer liegenden Schiffe, die man auf dem Radarschirm erkennen musste und nach der Aussage des Schiffsführers von MS P vor der Polizei erkannt hat, passiert hatte. Möglicherweise kann man auf MS P ein Aufdrehsignal des Talzuges nicht hören, sei es, daß es zu frühzeitig gegeben wird, sei es, daß0 wegen des Nebels und der Windrichtung eine Wahrnehmung nicht möglich ist.
Als die Führung von MS P nach Insichtkommen des Talzuges in 800 m Entfernung zu entscheiden hatte, ob sie die Fahrt fortsetzen oder anhalten sollte, konnte die Entscheidung, solange man sich mit dem Talfahrer nicht durch gegenseitige Schallsignale verständigen konnte oder verständigt hatte, nur dahin gehen, sofort zum linken Ufer beizugehen und anzuhalten (§§ 4, 80 Nr. 3 und 4 RhSchPVO). Dann wäre es zu dem Zusammenstoß bei dem Raum 11 (Achterschiff) von SK H gegen den Bug von MS P geriet, nicht gekommen. MS P wäre vielmehr außerhalb des Drehkreises von SK H geblieben. Der Schiffsführung von MS P muß daher vorgeworfen werden, daß sie fahrlässigerweise nicht damit rechnete, daß der Talzug zwei Längen hatte und nach Passieren der linksrheinischen Ankerlieger möglicherweise aufdrehen würde.
Ein Verschulden des Schiffsführers des Kahnes H hat das Berufungsgericht in dem Parallelprozet 3 C 76/62 BSch = 3 U 50/64 nicht für bewiesen angesehen; es hat dort ausgeführt, der Kahnführer habe jeden Augenblick damit rechnen können, sein Boot werde aufdrehen, und habe daher keinen Anlaß gehabt, selbständig zu handeln. Das Revisionsgericht kann diese zutreffende Würdigung für den vorliegenden Rechtsstreit übernehmen.
Zutreffend hat das Berufungsgericht ein Verschulden des Talzugführers darin gesehen, dass er statt des nach § 46 RhSchPVO unter den gegebenen Umständen unzulässigen Aufdrehens des ganzen Schleppzuges die Anhänge zweiter Länge nicht zum Loswerfen und Kopfvorländen angewiesen hat. Denn eine Weiterfahrt ohne genügende Sicht ist nach § 80 Nr. 2 RhSchPVO verboten.
Doch bedürfen diese Fragen keiner näheren Erörterung, da nur die Klägerin, nicht aber die Beklagte der Eignerin des Bootes A den Streit verkündet hat, der Beklagten gegenüber daher die Wirkungen der Nebenintervention nach § 68 ZPO nicht eintreten.
Für das Verschulden des Bootes A hat die Klägerin nicht einzutreten (§ 4 Abs. 3 BSchG). Ihr haften die Beklagte und die Eignerin des Bootes A als Gesamtschuldner (§ 92 BSchG; § 735 HGB; § 840 BGB).
Hiernach war die Klage im vollen Umfange dem Grunde nach für gerechtfertigt zu erklären (§§ 304, 538 Abs. 1 Nr. 3, 565 Abs. 3 Nr. 1 ZPO)."

Veröffentlich in ZfB 1967 S. 13, ZfB 1967, 13

Zur Sorgfaltspflicht eines auf dem Rhein im dichten Hebel mit Radar fahrenden Schiffes.
Urteil des Bundesgerichtshofes vom 17. November 1966 - II ZR 210/64 - (Rheinschiffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort/Rheinschiffahrtsobergericht Köln).

Anmerkung der Redaktion:


Das Urteil ist für die gesamte Binnenschiffahrt, insbesondere die Rheinschiffahrt, von größter Bedeutung. Der Bundesgerichtshof hat sich mit bemerkenswerter Schärfe zu der Auffassung bekannt, daß dem im Nebel fahrenden Radarfahrer besonders strenge Sorgfaltspflichten obliegen und der verminderten Sicht der Schiffsführer anderer Fahrzeuge, nämlich der Nichtradarfahrer, Rechnung zu fragen ist. Das Urteil kommt dem oftmals vertretenen Standpunkt nahe, daß - im Gegensatz zu der aus der Bekanntmachung über die Fahrt mit Radar und bei unsichtigem Wetter' § 1 II Ziffer 3 b) ersichtlichen Tendenz (Weska 1966 S. 111) - dem Nichtradarfahrer in der schwierigsten Fahrtsituation, z. B. bei plötzlich hereinbrechendem Nebel, nicht abweichend von den allgemeinen Grundregeln des § 80 RhSchPVO noch zusätzliche Pflichten gegenüber einem im Nebel zu Tal kommenden, sich durch das Dreiklangsignal bemerkbar machenden Radarfahrer aufgebürdet werden dürfen.