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II ZR 22/66 - Bundesgerichtshof (Berufungsinstanz Rheinschiffahrt)
Entscheidungsdatum: 18.04.1968
Aktenzeichen: II ZR 22/66
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Bundesgerichtshof Karlsruhe
Abteilung: Berufungsinstanz Rheinschiffahrt

Leitsatz:

Beim Wenden im weiten Bogen, d. h. bei einer Querfahrt, die unter der Voraussetzung erlaubt ist, daß andere Fahrzeuge nicht unvermittelt ihren Kurs vermindern oder ändern müssen, sind die anderen Schiffe verpflichtet, erforderlichenfalls ihre Geschwindigkeit zu vermindern oder / und ihren Kurs zu ändern.

Urteil des Bundesgerichtshofes

vom 18. April 1968

  II ZR 22/66

(Rheinschiffahrtsgericht St. Goar, Rheinschiffahrtsobergericht Köln)

Zum Tatbestand:

Die Klägerin ist Versicherin des MS S, das mit einem Kahn unterhalb des Hundhafens in St. Goar des Nachts linksrheinisch vor Anker gegangen war. Noch vor Helligkeit nahm das der Beklagten zu 1 gehörende und vom Beklagten zu 3 geführte Schleppboot L, das tags zuvor als Vorspann des aus dem MS S und dem gleichen Kahn bestehenden Bergschleppzuges gedient hatte, den Kahn auf und fuhr zu Berg. Auch MS S nahm die Bergfahrt auf. Unterhalb befanden sich rechtsrheinisch MS E, linksrheinisch T auf der Fahrt zu Berg. Zur gleichen Zeit war das der Streithelferin der Beklagten gehörende MTS M aus dem Hundhafen herausgetrieben und sodann bergwärts gefahren, um über Backbord zu Tal zu wenden. Es befand sich schon auf der Talfahrt, als es nach Passieren des L-Schleppzuges steuerbords zunächst mit MS S und sodann, zusammen mit diesem, gegen T stieß. Alle 3 Schiffe wurden beschädigt.
Die Klägerin verlangt von den Beklagten zu 1 und 3 sowie vom Beklagten zu 2 als persönlich haftenden Gesellschafter der Beklagten zu 1 Ersatz der Schäden an MS S und aus abgetretenem Recht Ersatz der Schäden an T. Sie behauptet, die Kollision beruhe auf fehlerhafter Einschaltung des Blinklichts und dem Backbordkurs des Bootes L, wodurch M, obwohl dieses Schiff erkennbar das Wenden im weiten Bogen angelegt und der Platz für eine Begegnung an Backbord in rechtsrheinischem Fahrwasser ausgereicht habe, zur Begegnung Steuerbord an Steuerbord aufgefordert und veranlaßt worden sei. MS M sei in ganz geringem Abstand und in Schräglage am Schleppzug zwar vorbeigekommen, die Schiffsführung von S habe aber mit einem Zusammenstoß zwischen M und dem Anhangkahn von L und sodann mit einer Kollision mit S selbst rechnen müssen und sei deshalb beschleunigt nach Steuerbord zum linken Rheinufer ausgewichen. Wegen der Schräglage sei es M nicht mehr gelungen, zwischen der Steuerbordseite des Schleppzuges und „Stadt Neckarelz" durchzufahren. Der Versuch von M, durch Aufdrehen nach Backbord eine Kollision mit S zu vermeiden, sei mißlungen.

Die Beklagten bestreiten jedes Verschulden. Vielmehr habe S fehlerhaft den Kurs plötzlich nach Steuerbord gewechselt und sei dadurch in den Kurs von M geraten. L habe mit Recht Vorbeifahrt an Steuerbord verlangt, da er mit seinem Kahn zum rechten Ufer habe fahren wollen. Die rechte Fahrwasserseite sei durch das an Backbord des Schleppzuges überholende MS E versperrt gewesen. S habe dem Schleppzug zum rechten Ufer folgen müssen und auch den Zusammenstoß infolge seines fehlerhaften Steuerbordkurses voraussehen können.

Rheinschiffahrtsgericht und Rheinschiffahrtsobergericht haben die Klage abgewiesen. Auf die Revision der Klägerin wurde die Klage zur Hälfte dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt.

Aus den Entscheidungsgründen:

Beim Blinken von L hatte M das Wenden fast beendet. L durfte daher schon zu der Zeit, als für sie erkennbar war, daß M am rechten Ufer zu Tal fahren wollte, ihren Kurs nicht zum rechten Ufer nehmen; erst recht durfte sie nicht, auch nicht unter Abgabe eines ihre Absicht in keiner Weise klärenden Achtungssignals, diesen in den Drehkreis von M gerichteten Kurs fortsetzen. Wenn eine Querfahrt - um eine solche handelte es sich bei dem Wenden in weitem Bogen, so daß § 47 Nr. 2 RhSchPVO nicht anzuwenden ist (BGH VersR 1961, 881) - nach § 49 Nr. 1 in Verbindung mit § 47 Nr. 1 RhSchPVO unter der Voraussetzung erlaubt ist, daß andere Fahrzeuge nicht gezwungen sind, unvermittelt ihre Geschwindigkeit zu vermindern oder ihren Kurs zu ändern, so sind die anderen Fahrzeuge verpflichtet, erforderlichenfalls ihre Geschwindigkeit zu vermindern oder (und) ihren Kurs zu ändern. Gegen diese Pflicht hat der Führer von L verstoßen. M war durch dieses Verhalten von L in die schwierige Lage versetzt, zu entscheiden, ob sie dem Schleppzug an Backbord, wie ursprünglich beabsichtigt, oder an Steuerbord begegnen sollte. In beiden Fällen war die unmittelbare Gefahr eines Zusammenstoßes mit dem Schleppzug gegeben. Sie hat sich für die Vorbeifahrt an Steuerbord entschieden und diese gefährliche Lage durch großes Geschick und Glück gerade noch gemeistert. Das Verhalten des beklagten Schiffsführers, der nach seinem eigenen Vorbringen möglichst schnell das rechte Ufer erreichen wollte, um dort den Schleppzug wieder zusammenzustellen, war auch schuldhaft. Er hat zwar angegeben, daß er für die Sicherheit von M habe sorgen wollen, da bei Begegnung an Backbord für „Magda" die Gefahr eines Zusammenstoßes mit dem Bergfahrer E bestanden habe. Eine solche Gefahr bestand jedoch nicht.
Das hinter dem Schleppzug, wenn auch nach Backbord versetzt, fahrende MS E hätte vom Überholen absehen müssen und unschwer dem entgegenkommenden Talfahrer nach Steuerbord ausweichen können.

Hiernach ist davon auszugehen, daß der beklagte Schiffsführer schuldhaft durch sein fehlsames Kurssignal und seinen fehlerhaften Kurs die unmittelbare Gefahr eines Zusammenstoßes mit dem Anhangkahn von L heraufbeschworen hat.

Dieses schuldhaft nautische Verhalten des beklagten Schiffsführers war im Rechtssinne ursächlich für die beiden Kollisionen (§ 92 BSchG, § 738 HGB). Als der Führer von S wahrnahm, daß M sich auf das fehlsame Kurssignal von L einließ, mußte er ausweichen, da wegen seiner gegenüber dem Schleppzug um eine Schiffsbreite nach Steuerbord versetzten Lage die vorauszusehende harte Vorbeifahrt von M am Schleppzug zum Zusammenstoß mit diesem hätte führen müssen. Die Kürze der Zeit bis zu seiner Begegnung mit M erforderte seine rasche Entscheidung. Er hat sich für die Begegnung mit M an Backbord entschieden und ist daher mit äußerster Kraft nach Steuerbord ausgewichen. Seine nautische Entscheidung war falsch, wie noch auszuführen sein wird.
S lag um eine Schiffsbreite nach Steuerbord aus dem Kurs des Schleppzuges heraus und befand sich in sehr kurzem Abstand hinter dem Schleppzug. Zugunsten der Klägerin muß unterstellt werden, daß S ihren Kurs parallel zum Ufer fuhr. Die Ereignisse spielten sich sehr schnell ab. Bei dieser Sachlage konnte es fraglich erscheinen, ob S, wäre sie nach Backbord ausgewichen, einen solchen Abstand zum Kahn gewonnen hätte, daß sie durch einen Zusammenstoß zwischen M und dem Kahn nicht in Mitleidenschaft gezogen worden wäre. Diese Erwägungen zeigen, daß der adäquate ursächliche Zusammenhang zwischen dem Entschluß des Führers von S, nach Steuerbord auszuweichen, und der fehlerhaften „Kursweisung" des beklagten Schiffsführers nicht verneint werden kann.
Der Führer von S hat in der Gefahrenlage, die durch das fehlsame Verhalten von L entstanden war, objektiv falsch gehandelt und unter Verstoß gegen § 38 Nr. 1 Satz 2 RhSchPVO den Kurs von M geschnitten. Der scharfe Backbordkurs, den M nach der Weisung von L ausführte, mußte bei dem schnellen Ablauf der Ereignisse dazu führen, daß „Stadt Neckarelz" die Durchfahrt für M zwischen dem Kahn und S nicht mehr rechtzeitig freimachen konnte. Das hat das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler ausgeführt. Demgegenüber wäre die Gefahr für S, wenn sie nach Backbord ausgewichen wäre, erheblich geringer gewesen.

Der Führer von S hat auch schuldhaft gehandelt, da die Lage für ihn, wie das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler festgestellt hat, erkennbar war. Entgegen der Ansicht der Revision kann er sich nicht darauf berufen, daß an seiner Backbordseite MS E im Revier war.

Selbst wenn die Behauptung der Revision, E habe sich im Zeitpunkt des Blinkzeichens von L an Backbordseite von S in einem Seitenabstand von 30 m befunden, als richtig unterstellt wird, wäre S durch E nicht gehindert gewesen, ausreichend nach Backbord vor dem entgegenkommenden MTS M auszuweichen. Dem Führer von S blieb auch noch ausreichend Zeit, den der Lage im Revier entsprechenden richtigen Entschluß zu fassen. Sein Verschulden wird nur dadurch gemindert, daß er unter einem gewissen Zeitdruck handeln mußte.

Einerseits hat der beklagte Schiffsführer von L die Gefahrenlage geschaffen, die sich auch auf S ausgewirkt hat und in der der Führer von S verhältnismäßig rasch seinen Entschluß fassen mußte. Diesem liegt andererseits zur Last, daß er in der Gefahrenlage unüberlegt unter Verkennung der nautischen Gegegebenheiten gehandelt hat. Hiernach haben die Beklagten den bei S entstandenen Schaden zur Hälfte zu tragen, während die Klägerin die andere Hälfte ihres Schadens selbst tragen muß. Das gleiche gilt auch für die Verteilung des bei T entstandenen Schadens. Nach Sachlage trifft die Führung dieses Schiffs kein Verschulden; ein solches ist auch vom Berufungsgericht nicht angenommen. Die Klägerin muß aber dem abgetretenen Anspruch ihre gegenüber L bestehende Ausgleichspflicht entgegenhalten lassen."