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II ZR 26/63 - Bundesgerichtshof (Berufungsinstanz Rheinschiffahrt)
Entscheidungsdatum: 19.10.1964
Aktenzeichen: II ZR 26/63
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Bundesgerichtshof Karlsruhe
Abteilung: Berufungsinstanz Rheinschiffahrt

Leitsatz:

Vorrang des Aufdrehsignals gegenüber dem Begegnungssignal: Wenn ein am linken Ufer zu Tal fahrendes Schiff, das wegen einer vorherigen Begegnung mit einem am rechten Ufer zu Berg fahrenden Schiff gemäß § 39 Nr. 2 RhSchPVO die blaue Seitenflagge zeigt, rechtzeitig Steuerbordwendesignal nach § 46 Nr. 2 RhSchPVO gibt, um vor einem nachfolgenden Bergfahrer, der ebenfalls die blaue Seitenflagge zeigt, aufzudrehen, so muß der nachfolgende Bergfahrer nicht nur (unter den Voraussetzungen des § 46 Nr. 3) die Geschwindigkeit vermindern und (oder) den Kurs ändern, sondern auch die blaue Seitenflagge einziehen. Ebenso muß der Talfahrer nach der Vorbeifahrt an dem vorausfahrenden Bergfahrer die blaue Seitenflagge einziehen."

Urteil des Bundesgerichtshofes

vom 19. Oktober 1964

(Rheinschiffahrtsgericht Mannheim/Rheinschiffahrtsobergericht Karlsruhe)

Zum Tatbestand:

Auf Grund einer Anweisung der Wasserschutzpolizei wollte der Kapitän des von der Klägerin ausgerüsteten Motorschleppers „A" mit 2 nebeneinander gekoppelten 1600-t-Kähnen im Anhang auf der linksrheinischen Talfahrt von Straßburg nach Sondernheim bei km 358,5 aufdrehen und gab deshalb mit dem Typhon Drehsignal. Zu diesem Zeitpunkt sah man auf Boot „„A" 2 Motorschiffe hintereinander rechtsrheinisch zu Berg fahren. Das erste MS „D" begegnete dem Talschleppzug oberhalb der in Aussicht genommenen Aufdrehstelle. Da jedoch das zweite dem Beklagten gehörende, von ihm geführte MS „B" seine Fahrt nicht verminderte, konnte das Drehmanöver von Schleppzug „A" nicht bei km 358,5, sondern erst nach der Begegnung mit „B" bei km 358,7-8 begonnen werden. Wegen des unterhalb gelegenen Goldgrundes und nicht mehr genügenden Raumes mußte das Drehmanöver sehr kurz durchgeführt werden. Das Boot geriet mit dem Achterschiff auf eine rechtsrheinisch gelegene Buhne bei km 358,8-9 und erlitt am Achterschiff und an der Rudereinrichtung erhebliche Schäden. Vor der Begegnung zeigten beide Bergfahrer und Boot „A" die blaue Seitenflagge, die bis zum Unfall beigesetzt blieb.
Die Klägerin verlangt von dem Beklagten Schadensersatz mit der Begründung, daß dieser durch Nichtbeachtung der rechtzeitig und wiederholt gegebenen Aufdrehsignale und durch Verhinderung des Aufdrehmanövers an der einzig geeigneten Stelle den Unfall herbeigeführt habe.
Der Beklagte bestreitet, daß Drehsignale vom Schleppzug „A" abgegeben seien. Durch Beibehalten der blauen Seitenflagge nach Begegnung mit dem ersten Bergfahrer habe „A" zu erkennen gegeben, daß das Aufdrehmanöver, das übrigens unsachgemäß ausgeführt worden sei und weiter unterhalb des Karlsruher Hafenmundes völlig gefahrlos hätte erfolgen können, erst nach der Begegnung mit „B" stattfinden solle.
Das Rheinschiffahrtsgericht hat die Klage dem Grunde nach zu 3/5 für gerechtfertigt erklärt und im übrigen abgewiesen. Die beiderseitigen Berufungen blieben erfolglos. Auf die Revision beider Parteien war die Klägerin insofern teilweise erfolgreich, als der Klageanspruch dem Grunde nach zu 9/s für gerechtfertigt erklärt wurde.

Aus den Entscheidungsgründen:

Die Entscheidung des Rechtsstreifs hängt in erster Linie von der Beantwortung einer grundsätzlichen Frage ab: Wie haben sich die Schiffsführer zu verhalten, wenn ein am linken Ufer zu Tal fahrendes Schiff, das wegen einer vorherigen Begegnung mit einem am rechten Ufer zu Berg fahrenden Schiff gemäß § 39 Nr. 2 RhSchPVO die blaue Seitenflagge zeigt, rechtzeitig Steuerbordwendesignal nach § 46 Nr. 2 RhSchPVO gibt, um vor einem nachfolgenden Bergfahrer, der ebenfalls die blaue Seitenflagge zeigt, aufzudrehen? Das Rheinschiffahrtsgericht und das Rheinschiffahrtsobergericht sind der Auffassung, das Aufdrehsignal habe gegenüber dem Begegnungssignal der Vorrang, während der Beklagte den gegenteiligen Standpunkt vertritt. Der Ansicht der Vorinstanzen ist zuzustimmen, wenn es auch erforderlich erscheint, die Pflichten der beteiligten Schiffsführer genauer zu umreißen.
Vorausgesetzt ist, daß der Talfahrer rechtzeitig, d. h., in einer solchen Entfernung von dem Bergfahrer sein Aufdrehsignal gibt, daß bei sofortiger („unvermittelter", vgl. Urteil des BGH vom 5. Oktober 1964 II ZR 84/63) Geschwindigkeitsverminderung und (oder) Kursänderung des Bergfahrers das Wenden ohne Gefahr geschehen kann (§ 46 Nr. 3 RhSchPVOi). Aus § 46 RhSchPVO ergibt sich eindeutig (vgl. daselbst unter Nr. 1 : „unbeschadet der Bestimmungen der Nummern 2 und 3"), daß der Talfahrer den Platz bestimmen kann, der für sein Aufdrehmanöver geeignet ist.. Er kann durch Abgabe des Aufdrehsignals vom Bergfahrer verlangen, daß dieser in dem von ihm, dem Talfahrer, benötigten Drehkreis nicht hineinfährt. Dabei ist es Sache des Bergfahrers, zu entscheiden, ob er das dadurch vermeidet, daß er seine Geschwindigkeit herabsetzt oder seinen Kurs ändert oder beide nautischen Maßnahmen zusammen trifft. Benötigt der Talfahrer zur gefahrlosen Durchführung seines Drehmanövers auch den Teil des Fahrwassers, den der Bergfahrer bei unverminderter Geschwindigkeit unter Fortsetzung seiner Fahrt im bisherigen Kurs befahren müßte, so darf der Bergfahrer an dem wendenden Talfahrer nicht vorbeifahren, so daß das Kursweisungsrecht des Bergfahrers (§ 38 Nr. 1 RhSchPVO) entfällt. Daraus ergibt sich zwangsläufig, daß der Bergfahrer, der vor dem Aufdrehsignal die blaue Seitenflagge gesetzt hatte oder nach § 38 Nr. 3 Abs. 2 S. 2 RhSchPVO beibehalten durfte, nach der Abgabe des Aufdrehsignals nicht nur die Geschwindigkeit vermindern und (oder) den Kurs ändern, sondern auch gemäß der zuletzt genannten Vorschrift sofort die Flagge einziehen muß; unterläßt er das, so kann (wie im vorliegenden Fall) der Talfahrer zu der Auffassung kommen, der Bergfahrer wolle pflichtwidrig ihn nicht aufdrehen lassen, oder es können bei dem Talfahrer Zweifel darüber bestehen, ob der Bergfahrer das Aufdrehsignal wahrgenommen hat und sich entsprechend darauf einrichtet. Andererseits darf aber auch der Talfahrer, der Aufdrehsignal gibt, um vor dem Entgegenkommenden zu wenden, nicht die blaue Seifenflagge zeigen, da er sonst bei dem Bergfahrer den Eindruck erwecken kann, er, der Talfahrer, wollte hinter ihm aufdrehen. Der Talfahrer muß daher, wenn er wegen eines dem Bergfahrer vorausfahrenden Fahrzeuges die blaue Seitenflagge gezeigt hat, sofort nach der Vorbeifahrt an diesem die Flagge einziehen (§ 38 Nr. 3 Abs. 2 S. 2 RhSchPVO).
Hinsichtlich der Rechtzeitigkeit des Aufdrehsignals ist der Wendende beweispflichtig; die Beweislastverteilung ist hier keine andere als beim Wenden zu Tal (BGH VersR 1962, 417; vgl. auch BGH VersR 1961, 1087).
Die Feststellungen des Berufungsgerichts ergeben, daß das Aufdrehmanöver, dessen Beginn bei km 358,5 in Aussicht genommen worden war, zulässig gewesen wäre. Zwar ist es richtig, daß ein Wendemanöver regelmäßig dann unzulässig ist, wenn das andere Fahrzeug anhalten muß, um das gefahrlose Wenden zu ermöglichen (unbeschadet der sich aus § 4 RhSchPVO ergebenden Pflicht der Führung des anderen Fahrzeugs, auch bei Vornahme eines unzulässigen Wendemanövers anzuhalten und sogar zurückzuschlagen). Wie weit die Herabsetzung der Geschwindigkeit möglich ist und von dem Aufdrehenden daher in Rechnung gestellt werden kann, hängt von den Umständen ab; jedenfalls muß das andere Fahrzeug steuerfähig bleiben. Bei der hier gegebenen Sachlage konnte der Bergfahrer „B", der selbst beim Anhalten steuerfähig geblieben wäre, die Geschwindigkeit auf den geringst möglichen Grad (etwa 1 km/h) herabsetzen. Wäre dies geschehen, so wäre nach den örtlichen Verhältnissen ein Aufdrehen ohne Gefahr möglich gewesen.

Auch die weitere Voraussetzung für die Zulässigkeit des Aufdrehmanövers, daß „A" die Absicht, aufzudrehen, rechtzeitig angekündigt hat, ist nach der Überzeugung des Berufungsgerichts, die es sich auf Grund der Beweisaufnahme ohne Verstoß gegen § 286 ZPO verschafft hat, gegeben. Nach den Feststellungen im angefochtenen Urteil durfte die Führung von „A" auch darauf vertrauen, daß ihre Signale von „B" gehört werden konnten.

Da „B" entgegen dem Gebot des § 46 Nr. 3 RhSchPVO ihre Fahrt mit unverminderter Geschwindigkeit unter Beibehaltung des Kurses fortsetzte, hat sie den Talzug an dem angekündigten Aufdrehen bei km 358,5 gehindert. Hätte der Talzug bei km 358,5 aufdrehen können, so wäre es zu dem Unfall nicht gekommen. Entgegen der Meinung der Revision, des Beklagten ist es für die Frage der Verursachung unerheblich, daß sich der Unfall nach der Begegnung zwischen „A" und „B" ereignet hat (§ 92 BSchG, § 738 HGB).

Die Revision des Beklagten geht bei ihren Rügen, soweit sie sich nicht in unzulässiger Weise gegen die Beweiswürdigung wenden, davon aus, daß wegen des Motorengeräusches auf „B" ein Schallsignal erst auf 500 bis 600 m Entfernung habe gehört werden können. Dabei übersieht die Revision, daß der Matrose „C", der diese Angaben machte, sich im Steuerstuhl von „B" aufhielt. Wenn aber im Steuerstuhl wegen des Motorenlärms ein Schallsignal erst auf diese Entfernung gehört werden kann, so muh jedenfalls dann, wenn, wie in vorliegendem Fall wegen der Sperrtafel bei km 360, mit einem Aufdrehen zu rechnen ist, ein Mann auf Deck als Wahrschauposten aufgestellt werden (vgl. Wassermeyer, der Kollisionsprozeß in der Binnenschiffahrt, 3. Auflage, S. 231 f.). Das hat das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt. Es ist eine Verkennung der Pflichten eines Schiffsführers, wenn die Revision des Beklagten meint, die Sperrung der Talfahrt ginge nur die Talfahrt an, damit habe der Bergfahrer überhaupt nichts zu tun.

Auch das Setzen der blauen Seitenflagge auf „A" entschuldigt den Beklagten nicht. Wären auf „B" die Aufdrehsignale gehört worden, so hätte „B" nicht nur die Fahrt vermindern, sondern auch die Flagge einziehen, also klarstellen müssen, daß mit Rücksicht auf die Ankündigung des Aufdrehens eine Begegnung nicht stattfinden solle. Ein Verschulden der Schiffsführung von „B" liegt also auch darin, daß sie trotz der Aufdrehsignale, die sie hätte hören müssen, die Flagge nicht eingezogen hat.
Nach der Vorbeifahrt an „D" durfte „A" die Flagge nicht beibehalten (§ 38 Nr. 3 Abs. 2 5. 2 RhSchPVO). Während der Bergfahrer, weil er das Kursbestimmungsrecht hat, die Flagge beibehalten darf, wenn er weiterhin Talfahrer an Steuerbord vorbeifahren lassen will (§ 38 Nr. 3 Abs. 2 S. 2 RhSchPVO: „es sei denn, daß die Bergfahrer. . ."), muß der Talfahrer, dem kein Kursweisungsrecht zusteht, nach der Vorbeifahrt die Flagge einziehen. Nur dann, wenn die weitere Begegnung mit einem Bergfahrer bevorsteht und er auch diese Begegnung vollziehen will, darf der Talfahrer die Flagge beibehalten. Hier stand, aber nach der Vorbeifahrt von „A" an „D" die Begegnung von „A" mit „B" noch nicht bevor, da die Entfernung noch 600 bis 700 m betrug; vor allem aber wollte A die Begegnung gar nicht vollziehen, sondern machte durch seine Signale von dem Vorrecht des Aufdrehenden Gebrauch. Dann mußte aber „A" nach der Vorbeifahrt an „D" die Flagge einziehen und durfte und muhte sie erst dann wieder setzen, als sich die Entfernung zu „B" so vermindert hatte, daß ein Aufdrehen nicht mehr ohne Gefahr durchgeführt werden konnte. Der Verstoß gegen die genannte Vorschrift war schuldhaft; dem Schiffsführer von „A" kann nicht abgenommen werden, daß er sich über den Inhalt der eindeutigen Vorschrift des § 38 Nr. 3 Abs. 2 S. 2 RhSchPVO geirrt habe. Der Verstoß hat aber auch den Unfall mitverursacht. Zwar würde es nicht genügen, daß der Verstoß nur "möglicherweise" den Unfall herbeigeführt hätte. Das Berufungsgericht hat aber, wenn es diesen Ausdruck gewählt hat, nicht gesehen, daß der Führer von „A" gegen die bezeichnete Bestimmung, die eine Schutzvorschrift im Sinne des § 823 Abs. 2 BGH ist und Zweifel hinsichtlich Zeichengebung und Kursweisung möglichst ausschließen will, verstoßen hat. Dann spricht aber im vorliegenden Fall der Beweis des ersten Anscheins, der von der Klägerin nicht entkräftet ist, dafür, daß der Bergfahrer „B" bei Wegnahme der Flagge durch „A" sein Augenmerk stärker auf den Talfahrer gerichtet hätte und daher auch auf dessen Aufdrehsignal aufmerksam geworden wäre.
Das Berufungsgericht hat zutreffend angenommen, daß die Gefahrenlage und damit der Unfall in erster Linie und vorwiegend von dem Beklagten verursacht (und auch verschuldet) worden ist, da er die Aufdrehsignale nicht beachtet hat. Es hat aber nicht erkannt, daß der Bergfahrer „B" auf die Aufdrehsignale von „A" hin auch verpflichtet gewesen wäre, die blaue Seitenflagge einzuziehen. Der Senat hält unter Berücksichtigung aller Umstände eine Schadensverteilung im Verhältnis 4 („B") : 1 („A") für angemessen."