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II ZR 29/60 - Bundesgerichtshof (-)
Entscheidungsdatum: 30.11.1961
Aktenzeichen: II ZR 29/60
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Bundesgerichtshof Karlsruhe
Abteilung: -

Leitsatz:

Das Neue Fahrwasser ist unter bestimmten Verhältnissen als Stromenge (§ 41 RheinSchPVO) anzusehen. Das Vorhandensein eines Wahrschauers schließt nicht aus, dass sich auf der Wahrschaustrecke Stromengen befinden. Ein Anhangkahn hat für. das Verschulden seines Schleppers nicht einzustehen. Das längsseitige Zusammenkuppeln ungleich großer Anhangkähne im Talschleppzug ist weder vorschriftswidrig noch auf Grund eines Schiffahrtsbrauches unstatthaft.

 

Urteil des Bundesgerichtshofes

vom 30. November 1961

(Rheinschiffahrtsobergericht Köln)

II ZR 29/60


Zum Tatbestand:

Im Anhang des Bootes „A" fuhren bei einem Binger Pegel von 2,70 m zu Tal durch das Neue Fahrwasser auf erster Länge der bei der Klägerin zu 1 versicherte, etwa 400 t große, beladene Kahn „B", dessen Ladung bei der Klägerin zu 2 versichert war, steuerbords neben dem 1273 t großen, beladenen Kahn „C", auf zweiter Länge die leeren Kähne „D" und „E", deren Schleppstränge auf Kahn „C" festgesetzt waren. Nach Passieren der Mäuseturminsel und nach Einfahrt in das Neue Fahrwasser begegneten dem Talschleppzug, dem die Fahrt freigegeben war, Backbord an Backbord ein Bergs zu stehend aus Vorspannboot „F" und MS „G", sowie das hinter „G" herfahrende, der Beklagten zu 1 gehörende, vom Beklagten zu 2 geführte MTS „H" (etwa 1500 t). In Höhe des Hohen Lochsteins (km 530,6), im Augenblick oder kurz nach der Vorbeifahrt an „H", ragte Kahn „B" mit seiner Steuerbordseite 10 bis 12 m von der Längskribbe entfernt und erlitt einen Leckschaden.

Die Klägerinnen verlangen Schadensersatz mit der Behauptung, dass die Schuld an dem Unfall allein den Beklagten zu 2 treffe, weil dieser mit MTS „H" in die Enge des Neuen Fahrwassers eingefahren sei, statt unterhalb des Trennwerkes die Vorbeifahrt abzuwarten.

Die Beklagten bestreiten ein Verschulden und das Vorliegen einer Stromenge. Der Talfahrer habe die Längskribbe zu hart angehalten. „B" treffe auch ein Mitverschulden, weil die seitliche Meerung des Kahnes an Kahn „C" unsachgemäß vorgenommen sei.

Das Rheinschifffahrtsgericht hat die Klage abgewiesen, das Rheinschifffahrtsobergericht hat ihr dem Grunde nach stattgegeben. Die Revision der Beklagten blieb erfolglos.


Aus den Entscheidungsgründen:

Das Berufungsgericht ist der Auffassung, der Unfall habe sich in einer Stromenge (§ 41 RhSchPolVO) ereignet. Zwar könne nicht die ganze Strecke des Neuen Fahrwassers als Stromenge angesehen werden, wohl aber habe an der Unfallstelle unter den damals gegebenen Verhältnissen das Fahrwasser nicht unzweifelhaft hinreichenden Raum für die Vorbeifahrt gewährt. Das Fahrwasser sei zwar 78 m breit; trotzdem könne man nicht sagen, dass einem Talzug bei einer Begegnung mit einem 11 m breiten, hart an der linken Fahrwassergrenze verhaltenden Bergfahrer 60 m Fahrwasser zur Verfügung ständen. Die Strömungsverhältnisse seien hier sehr schwierig: Wenn, wie am Unfalltage, die Längskribbe (damals um 40 cm) überflutet sei, so ströme ein großer Teil des Wassers hinter der Mäuseturminsel hervor quer über die Längskribbe nach rechtsrheinisch zu den Lochbänken zu, so dass sich also die Strömung trotz der nach rechts gerichteten Stromkrümmung bis etwa unterhalb von km 530,6 kräftig nach rechtsrheinisch absetze. Die Anhänge von Talzügen, die nicht genügend Abstand von der Längskribbe hielten, würden daher geradezu vierkant auf die Kribbe versetzt. Kurz unterhalb von km 530,6 fließe dagegen das durch die Lochbänke angestaute Wasser in umgekehrter Richtung von rechtsrheinisch über das Trennwerk herein, so dass die Strömung von dort ab nach linksrheinisch gehe.

Die Ausführungen des Berufungsgerichts sind frei von Rechtsirrtum und halten allen Revisionsangriffen stand; sie tragen seine Auffassung, dass an der Unfallstelle eine Stromenge vorhanden war, in die der Bergfahrer nicht hätte hineinfahren dürfen.

Nach § 37 Nr. 1 ist das Begegnen nur gestattet, wenn das Fahrwasser unter Berücksichtigung aller örtlichen Umstände und des übrigen Verkehrs unzweifelhaft hinreichenden Raum für die Vorbeifahrt gewährt. Wo dies voraussehbar nicht der Fall ist (Stromengen), müssen Bergfahrer nach § 41 Nr. 1 b unterhalb der Stromenge halten, bis der Talfahrer diese durchfahren hat.

Die Fahrt durch die Binger-Loch-Strecke ist durch Wahrschau geregelt (§§ 129, 130). Die Talschifffahrt soll in der Regel das Neue Fahrwasser (also das linksrheinische, nicht das rechtsrheinisch befindliche Binger-Loch-Fahrwasser) benutzen. Sie darf aber das Fahrwasser nur dann benutzen, wenn es durch Signal, das der Posten 2 auf dem Mäuseturm gibt, freigegeben ist. Wie sich aus der Auskunft der Wasser- und Schifffahrtsdirektion Mainz ergibt, wird das Freigabezeichen nach seit langer Zeit bewährter Übung gegeben, wenn entweder überhaupt kein Fahrzeug oder nur ein Einzelfahrer (ohne oder mit Vorspann) zu Berg fährt. Hier war das Freigabezeichen (Bild 93 zu § 130) für den Talschleppzug gegeben. Der Posten 2 kann auch für die Bergfahrt das Neue Fahrwasser ab km 531,40 sperren. Das ist hier nicht geschehen. Sowohl der Talschleppzug „A" als auch der Einzelbergfahrer „H" durften daher in das Neue Fahrwasser hineinfahren. Damit, dass die Wahrschaustrecke vom Wahrschauer für den Talfahrer freigegeben und für den Bergfahrer nicht gesperrt worden war, ist aber nicht gesagt, dass nicht an einzelnen Stellen dieser Strecke eine Stromenge vorhanden sein kann. So wenig das Nichtvorhandensein eines Wahrschauers den Schluss rechtfertigt, dass keine Stromenge vorliege (BGH VersR 1958, 122, 123), ebenso wenig schließt das Vorhandensein eines Wahrschauers aus, dass sich auf der Wahrschaustrecke Stromengen befinden.

Das Gesetz bringt dadurch, dass es unzweifelhaft hinreichenden Raum für die Vorbeifahrt verlangt, zum Ausdruck, dass der Bergfahrer bei der Begegnung kein Wagnis in Kauf nehmen darf. Da Sicherheit des Verkehrs vor Schnelligkeit geht, darf der Bergfahrer den Talfahrer nicht in eine Lage versetzen, die sein Navigieren besonders erschwert und dazu führen kann, dass schon ein leichter nautischer Fehler zu einem Unfall führt.

Nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen des Berufungsgerichts überließ der Bergfahrer einem Talfahrer eine Fahrwasserbreite von 60 m, die aber wegen der Querströmung mindestens zu einem Drittel der Breite des gesamten Fahrwassers (78 m), also zu 26 m, für den Talfahrer praktisch nicht benutzbar war. Damit verblieb für einen Talzug ein Raum von nur.34.m, der von Anhängen, die aus aneinander gekuppelten Fahrzeugen bestehen konnten, bis zu einer Breite von 20 m in Anspruch genommen werden konnte. Der Abstand zwischen Tal- und Bergfahrer konnte sich also auf 14 m verringern. Für das Talboot und seine Anhänge wurde damit das Navigieren sehr schwierig, wollten sie zur Linken den Zusammenstoß mit dem Bergfahrer und zur Rechten die Berührung mit dem von der Längskribbe abfallenden Grund vermeiden, zu dem ihre Schiffe von der nach rechtsrheinisch gehenden Querströmung getrieben wurden.

Der Bergfahrer hätte den Talzug gar nicht in eine solche schwierige Lage bringen dürfen, sondern hätte rechtsrheinisch unterhalb von km 530,7 an der Längskribbe verhalten müssen, bis der Talzug vorbeigefahren gewesen wäre. So weit geht der Vertrauensgrundsatz nicht, dass ein Schiffer in einer schwierigen Lage, in die er den Gegenfahrer bringt, ein nautisch einwandfreies Verhalten des Gegenfahrers erwarten darf. Der Talzug hätte bei richtiger Fahrweise den Bergfahrer ziemlich scharf anhalten müssen. Dass die Schiffsführer von „A" und „C" hiervor in der Sorge, eine Kollision mit dem Bergfahrer herbeizuführen, zurückschreckten, vermag sie vielleicht nicht zu entschuldigen, kann aber den Bergfahrer, der die Talfahrer durch seine Fahrweise in die Zwangslage der nautischen Entscheidung gebracht hat, nicht von eigener Schuld freistellen.

Ohne Rechtsfehler ist die Ansicht des Berufungsgerichts, dass außer einer fehlerhaften Fahrweise des Talzuges, die auf einer Verkennung der Strömungsverhältnisse beruhte, auch das Einfahren des Bergfahrers in die Stromenge für den Unfall ursächlich war. Die Ansicht des Berufungsgerichts wird von seiner Feststellung getragen, dass die verantwortlichen Führer und Lotsen des Talzuges deswegen in erster Linie zu nahe an die Längskribbe hingefahren seien, weil sie sich durch die Lage des „H" stark behindert fühlten. Hiernach hat gerade die Lage des Bergfahrers dazu geführt, dass der Talzug unter Nichtberücksichtigung der Strömungsverhältnisse zu weit nach Steuerbord gegangen ist, wozu er keinen Anlass gehabt hätte, wenn der Bergfahrer sich nicht in der Stromenge befunden hätte.

Dass nach der Auffassung des Berufungsgerichts auch die Schiffsführung des Talbootes „A" ein ursächliches Verschulden an dem Unfall trifft, ist für die hier zutreffende Entscheidung ohne Bedeutung. Der Kahn hol für das Verschulden seines Schleppers nicht einzustehen; soweit mehrere Schiffe den Unfall schuldhaft verursacht haben, haften sie ihm als Gesamtschuldner, so dass er sich an jedes einzelne Schiff halten kann. Hierüber besteht kein Streit. Nun will aber die Revision ein eigenes Verschulden der Kahnbesetzung darin sehen, dass sie ihren Kahn seitlich in fehlerhafter Weise an den Kahn „C" genährt und sich gegen die nautisch fehlerhafte Fahrweise ihres Bootes nicht gewehrt habe. Damit kann die Revision keinen Erfolg haben.

Zwar ist der Kahnführer für die Meerung seines Kahnes mitverantwortlich (BGH VersR 1958, 560 f). Eine unsachgemäße Meerung liegt aber nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht vor. „B" war, wie das Berufungsgericht feststellt, an dem mehr als dreimal so großen Kahn „C" fast Kopf an Kopf gekuppelt, so dass sie nach Backbord hin so gut wie keine Steuerwirkung und nach Steuerbord hin auch nur eine wesentlich geringere besaß als der Nachbarkahn. Auch war für den Kahnführer von „B" die Sicht nach Backbord durch die hohe Decklast von „C" stark behindert. Unter diesen Umständen musste die Führung von „B" die Verantwortung für die Steuerung des ersten Anhangs praktisch der Führung des „C" überlassen. Das Berufungsgericht führt aus, diese Art der Zusammenstellung habe dem Schifffahrtsbrauch nicht widersprochen, jede Art der Zusammenstellung habe auf der Talfahrt im Gebirge ihre Vor- und Nachteile. Die Ausführungen im angefochtenen Urteil lassen keinen Rechtsfehler erkennen. Der Gesetzgeber (§ 57) hat das längsseitige Zusammenkuppeln ungleich großer Fahrzeuge trotz der Nachteile, die es mit sich bringt, zugelassen, ohne über die Art der Zusammenstellung Regeln aufzustellen. Ein bestimmter Schifffahrtsbrauch hat sich nach der Feststellung des Berufungsgerichts hier nicht gebildet. Da die vorliegende Art der Zusammenstellung einem Schifffahrtsbrauch nicht widerspricht, sondern ebenfalls in Übung ist (vgl. den ähnlich liegenden Fall BGH VersR 1961, 759; ferner Wassermeyer, Der Kollisionsprozess, 2. Aufl., S. 248 f), kann der Kahnführung von „B" ein Schuldvorwurf nicht gemacht werden.