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II ZR 36/62 - Bundesgerichtshof (Berufungsinstanz Rheinschiffahrt)
Entscheidungsdatum: 12.12.1963
Aktenzeichen: II ZR 36/62
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Bundesgerichtshof Karlsruhe
Abteilung: Berufungsinstanz Rheinschiffahrt

Leitsatz:

Keine Anwendung der Grundsätze des Anscheinsbeweises für ein Verschulden des Überholers, wenn es darauf ankommt, ob er die mangelnde Manövrierfähigkeit des zu überholenden Schiffes hätte erkennen können. Jeder Verkehrsteilnehmer kann davon ausgehen, da4 die übrigen Verkehrsteilnehmer ordnungsgemäß am Verkehr teilnehmen. Auch ein übliches Verhalten von Verkehrsteilnehmern ist rechtswidrig, wenn es unfallträchtig ist; die Rechtsordnung schützt keinen Brauch, der Mißbrauch ist.

 

Urteil des Bundesgerichtshofes

vom 12. Dezember 1963

(Rheinschiffahrtsobergericht Köln)

II ZR 36/62

Zum Tatbestand

Das der Klägerin gehörende beladene MS „A", das sich wegen Maschinenschadens nicht mit eigener Kraft fortbewegen konnte, wurde von einem anderen MS „B" durch die Gebirgsstrecke zu Berg auf langem Strang geschleppt. Oberhalb des Tauberwerthes wurde der richtig gekennzeichnete Schleppzug an Backbordseite von dem der Beklagten zu 1 gehörenden und vom Beklagten zu 2 geführten MS „C" überholt. Während dessen Vorbeifahrt lief MS „A" nach Steuerbord aus dem Ruder und fuhr sich auf den Homeleyen fest. Die Klägerin verlangt Ersatz aller dadurch entstandener Schäden, weil MS „C" an ungeeigneter Stelle und in nautisch fehlerhafter Weise, in zu nahem Abstand und zu schnell, überholt habe, so daß MS „A" wegen des auf das Achterschiff von „A" bewirkten Soges nach Steuerbord verfallen sei.
Die Beklagten bestreiten ein Verschulden. Das mit einem Hitzler-Ruder ausgestattete MS „A" sei ohne den Einsatz seiner Maschinenkraft im Schlepp nicht ausreichend manövrierfähig gewesen.
Die Klage blieb in beiden Vorinstanzen erfolglos. Auch die Revision wurde zurückgewiesen.

Aus den Entscheidungsgründen:

„Das Berufungsgericht geht davon aus, daß das Überholen als solches nautisch unbedenkliche und deshalb grundsätzlich zulässig gewesen sei (§ 37 Nr. 1 RhSchPVO). Auch unter Berücksichtigung der örtlichen Umstände (scharfe Strombiegung mit kräftig zum linken Ufer absetzendem Wasser) sei bei einem fahrbaren Wasser von 220 bis 165 m (an der Unfallstelle 175 m) Breite im Unfallbereich mehr als ausreichend Platz für ein einfaches Überholen gewesen.
Auch ein für die Überholung so empfindlicher Schleppzug, wie es derjenige der beiden Motorschiffe objektiv gewesen sei, habe bei genügendem Seitenabstand und entsprechender Geschwindigkeit gefahrlos überholt werden können. Aus diesen tatsächlichen Erwägungen, die keinen Rechtsfehler erkennen lassen, ist das Berufungsgericht der Meinung der Klägerin, der Ort sei für das Überholen eines Schiffes mit Maschinenschaden besonders ungeeignet gewesen, nicht gefolgt. Die Revision weiß dem nichts anderes entgegenzusetzen, als die Ansicht der Klägerin zu wiederholen.
War demnach das Überholen grundsätzlich zulässig, so war es, wie das Berufungsgericht im Einklang mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats (VersR 1957, 194, 1960, 594) mit Recht annimmt, Sache des Vorausfahrenden, ein nautisch fehlerhaftes Verhalten des Überholenden bei der Durchführung der Überholung zu beweisen.
Die Revision wendet sich vor allem dagegen, daß das Berufungsgericht die Regeln des Anscheinsbeweises nicht angewendet habe. Sei, so meint die Revision, die Ursächlichkeit  des Überholmanövers für das Festlaufen von zu unterstellen, so spreche der Beweis des ersten Anscheins, für ein Verschulden des Beklagten, da die Verletzung fremden Eigentums immer die Verletzung eines Schutzgesetzes darstelle und das Berufungsgericht selbst das Auslaufen eines vom Überholer achtern in einer Strombiegung angesogenen Anhangsschiffes als ganz typischen Vorgang bezeichne.
Dieser Ansicht kann nicht zugestimmt werden. Nur die vorsätzliche Sachbeschädigung (§§ 303 ff. StGB) ist Verletzung eines Schutzgesetzes i. S. des § 823 Abs. 2 BGB. Ob im, allgemeinen die Grundsätze des Anscheinsbeweises für ein Verschulden des Überholers zum Zuge kommen, wenn dieser durch Sogwirkung das zu überholende Anhangschiff zum Auslaufen bingt, bedarf hier keiner Erörterung. Die Revision verkennt, daß hier der besondere, atypische Umstand vorliegt, daß das zu überholende Schiff nicht verkehrssicher, weil nicht genügend steuerbar, war, um eine normale Sogwirkung abzufangen. Hier hängt das Verschulden des Überholers davon ab, ob er die mangelnde Manövrierfähigkeit des zu überholenden Schiffes hätte erkennen können. Dafür spricht nach der Erfahrung des Lebens keine Vermutung. Im Gegenteil: Jeder Verkehrsteilnehmer kann davon ausgehen, wie auch das Berufungsgericht zutreffend annimmt, daß die übrigen Verkehrsteilnehmer ordnungsgemäß am Verkehr teilnehmen. Ein Beweis des ersten Anscheins kommt also der...Klägerin nicht zustatten; vielmehr hat sie den vollen Beweis dafür zu erbringen, daß der Beklagte die mangelnde Manövrierfähigkeit ihres Schiffes hätte erkennen können. Daran ändert nichts, daß das Gesetz (§ 37 Nr. 4, § 42 Nr. 1 RhSchPVO) dem Überholer die Anwendung besonderer Sorgfaltspflicht zur Pflicht macht, wie das Berufungsgericht richtig ausführt.

Fehl geht die Meinung der Revision, das Verschleppen von Motorschiffen mit Hitzler-Rudern durch andere Motorschiffe anstelle von Schleppbooten sei durchaus üblich geworden und daher unbedenklich. Ob das für ein Fahrwasser, das keine besondere Gefährlichkeit aufweist, zutrifft, bedarf keiner Erörterung. Für die Gebirgsstrecke kann jedenfalls dieser Ansicht nicht zugestimmt werden. Daran würde auch die von der Klägerin behauptete Üblichkeit nichts ändern. Denn auch ein übliches Verhalten von Verkehrsteilnehmern ist rechtswidrig, wenn es unfallträchtig ist; die Rechtsordnung schützt keinen Brauch, der Mißbrauch ist. Unerheblich ist, ob „A" auf der Strecke von E. bis G. zahlreiche Überholungen ohne Schwierigkeiten überstanden hat. Daß in der Gebirgsstrecke der Expreßzug überhaupt einmal überholt worden und daß dies ohne Gefahr geschehen sei, hat die Klägerin nicht bewiesen; das Berufungsgericht hat festgestellt (BU S. 16), daß sich die mangelhafte Steuerfähigkeit von „A" schon ab G. gezeigt habe.
Das Berufungsgericht hat das Überholen eines geschleppten, mit einem gewöhnlichen Ruder ausgestatteten Motorschiffs, dessen Maschine und Schraube außer Tätigkeit war, so, wie es von „C" durchgeführt worden ist, ohne Rechtsfehler für nautisch einwandfrei gehalten. Ebenso hat es rechtlich bedenkenfrei seine Ansicht begründet, die Schiffsführung von „C" habe nicht damit zu rechnen brauchen, daß „A" mit einem „Hitzler"-Ruder ausgestattet und daher nur beschränkt manövrierfähig gewesen sei. Der gegenteiligen Ansicht der Klägerin, die sich auch die Revision zu eigen macht, ist das Berufungsgericht mit Recht nicht gefolgt. Wenn schon die Klägerin ein nur beschränkt steuerfähiges Schiff fahren ließ, dessen eingeschränkte Manövrierfähigkeit nicht ohne weiteres zu erkennen war, hätte von der Besatzung des Schiffes zum mindesten erwartet werden müssen, daß sie den übrigen Verkehr vor den Gefahren warnte, die von ihrem Schiff ausging."