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II ZR 54/58 - Bundesgerichtshof (Zivilgericht)
Entscheidungsdatum: 22.10.1959
Aktenzeichen: II ZR 54/58
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Bundesgerichtshof Karlsruhe
Abteilung: Zivilgericht

Leitsatz:

Das Einschleppen eines Kahnes in die Schleusenkammer einer Bundeswasserstraße durch einen Schleppwagen der Kanalverwaltung stellt einen Teil der Verkehrssicherungspflicht des Bundes dar. Beim Einschleppen müssen Kahnführung und Schleppwagenführer sachgemäß zusammenwirken. Gerät der Kahn auf der Fahrt zur Schleuse infolge unrichtiger Ruderführung in eine Schräglage, so hat der Schleppwagenführer die Fahrt zu vermindern oder das Schleppen einzustellen; er darf nicht darauf vertrauen, dass es dem Kahnführer auch bei Beibehaltung der Geschwindigkeit gelingen werde, durch Ruderstellung den Kahn vor Erreichung der Schleusenkammer in gestreckte Lage zu bringen. Unterweisungspflicht der Dienstvorgesetzten eines Schleppwagenführers.

Urteil des Bundesgerichtshofes

vom 22. Oktober 1959

Zum Tatbestand:

Der Kahn der Klägerin (1357 t, 80 m lang, 9,50 m breit, mit 72.2 t Erz auf 1,60 m Tiefe abgeladen) wurde in eine von der Beklagten zu 1 verwaltete Schleuse des Rhein-Herne-Kanals durch den im Dienste der Beklagten zu 1 stehenden Beklagten zu 2 als Fahrer eines
Schleusenwagens eingeschleppt. Dabei erlitt Kahn A durch Kollision zunächst mit der südlichen, dann mit der nördlichen Wand der 10,20 m breiten Schleusenkammer erhebliche Schäden. Das Schiffahrtsgericht hat die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt, das Schiffahrtsobergericht hat sie abgewiesen. Auf die Revision der Klägerin hat der Bundesgerichtshof der Klage zu einem Drittel stattgegeben.

Aus den Entscheidungsgründen:

I. Der Rhein-Herne-Kanal gehört zu den nach Art 89 GG vom Bund durch eigene Behörden zu verwaltenden Bundeswasserstraßen (Art. 1 der VO zur Einführung der BSchSO vom 19. Dezember 1954, BGBI II, 1135, § 1 Abs. 2 a - WK - BSchSO).

Die Verletzung der den Bundesbehörden obliegenden Verkehrssicherungspflicht ist, soweit nicht die Verkehrssicherungspflicht durch einen besonderen Organisationsakt öffentlich-rechtlich gestaltet ist (BGHZ 9, 373, 387f; 20, 57, 59 hinsichtlich des Nord-Ostsee-Kanals), nicht unter dem Gesichtspunkt der Amtspflichtverletzung (§ 839 BGB, Art. 34 GG), sondern nach den Grundsätzen der §§ 823, 831 BGB zu beurteilen (BGHZ aaO; BGH VersR 1957, 513, Urteil des BGH vom 30. November 1954 - 1 ZR 232/52). Zu der Verkehrssicherungspflicht gehört auch die Durchführung des Betriebes einer Schleuse, und zwar nicht nur die technische Einrichtung und Unterhaltung der Schleuse, sondern auch die für ihren sicheren Betrieb erforderliche persönliche Besetzung und Bedienung der Anlage (BGH 20, 59). Wie unter den Parteien unstreitig ist, müssen Anhangkähne an der hier in Frage stehenden Schleuse von den am Ufer fahrenden Schienenschleusenwagen in die Schleusenkammer geschleppt und aus dieser wieder herausgezogen werden. Da sich die Beklagte zu 1) das Schleppen der Anhangkähne durch die Schleuse vorbehalten hat, ist dieser Schleppvorgang ein wesentlicher Bestandteil der Schleusenanlage. Die ordnungsgemäße Durchführung des Schleppens stellt somit einen Teil der Verkehrssicherungspflicht der Beklagten zu 1) dar.

Die Benutzung einer dem öffentlichen Verkehr gewidmeten Anlage begründet für sich allein regelmäßig keine vertraglichen Beziehungen zwischen den Beteiligten (RG JW 1927, 442; BGHZ 20, 60). Ob hier nicht besondere Umstände vorliegen, die eine andere Beurteilung rechtfertigen könnten, kann dahingestellt bleiben. Denn die Haftung der Beklagten zu 1) ist im vorliegenden Fall schon nach den Vorschriften über unerlaubte Handlungen (§ 831 BGB) gegeben. Als Rechtsgrundlage für den Schadensersatzanspruch gegen den Beklagten zu 2) kommt ohnehin nur § 823 Abs. 1 BGB in Betracht.

II. Das Berufungsgericht geht zutreffend davon aus, es sei nicht die Aufgabe des Schleppwagenführers, dem einfahrenden Kahn die richtige Lage zu geben. Der Schleppwagenführer darf zwar die Steuerung des Kahnes nicht beeinträchtigen, er kann aber den Kahn nicht selbst steuern. Insofern besteht ein grundsätzlicher Unterschied gegenüber der Aufgabe des Führers eines Schleppbootes, der in erheblichem Umfang den Kurs eines Kahnes bestimmen kann und daher für den richtigen Kurs seines Anhanges verantwortlich ist (BGH Urt. v. 29. Juni 1959 11 ZR 3/58 und vom 2. Oktober 1958 II ZR 337/56, VersR 1958 S. 759). Das Berufungsgericht irrt aber, wenn es meint, der Schleppwagenführer habe auf den Kurs des Kahnes keinen Einfluß. Das zeigt schon die einfache Überlegung, daß der Schleppwagen (im Gegensatz zum Schleppboot) nicht vor dem geschleppten Kahn, sondern am Ufer fährt, daß also die Zugwirkung, die vom Schleppwagen ausgeht, immer in Richtung des Ufers (im vorliegenden Fall nach Steuerbord) geht. Der Schleppwagen gibt also dem Kahn nicht nur die Fahrt, die notwendig ist, um ihn steuerfähig zu machen, er zieht ihn vielmehr notwendigerweise in Richtung des Ufers, und es ist Aufgabe des Kahnführers, diese seitliche Zugwirkung durch richtiges Legen des Ruders auszugleichen. Je mehr der Schleppwagen die gerade zur Erhaltung der Steuerfähigkeit des Kahnes erforderliche Geschwindigkeit überschreitet, desto größerer Geschicklichkeit bedarf es, um den Kahn gestreckt zu halten, desto schwieriger wird das Einschleppmanöver für den Kahnführer. Der Schleppwagenführer kann also durch die von ihm eingehaltene Geschwindigkeit den Kurs des Kahnes in wenn auch beschränktem Maße beeinflussen. Schleppwagen und Kahn müssen also zusammenwirken, um eine ordnungsgemäße Einfahrt zu bewerkstelligen.


III. Da gegenüber dem Beklagten zu 2) der Klageanspruch nur auf § 823 BGB gestützt werden kann, ist die Klägerin für das ursächliche Verschulden des Beklagten zu 2) beweispflichtig. Dieser Beweis ist entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts bei richtiger Würdigung des eigenen Vorbringens des Beklagten zu 2) geführt.

Da sich auch nach der Ansicht des Berufungsgerichts die Schrägstellung des Kahnes auf der 100 m langen Fahrt allmählich entwickelt hat, mußte der Beklagte zu 2), ohne daß es hierzu eines Zurufes der Besatzung bedurfte, schon durch frühzeitiges Langsamfahren oder durch völliges Abstoppen der Ruderführung die Möglichkeit erleichtern, den Kahn in gestreckte Lage zu bringen, bevor sein Bug das Schleusentor erreichte. Er durfte sich nicht darauf verlassen, daß es auch, wenn er seine Geschwindigkeit beibehielt, der Kahnführung gelingen würde, durch geschickte Ruderführung die gestreckte Lage des Kahnes rechtzeitig zu erreichen. Denn je schneller der Kahn gezogen wurde, desto mehr geriet er nach Steuerbord, desto mehr verkürzte sich der für die Ruderführung zur Verfügung stehende Zeitraum; auch war es desto schwieriger, diejenige Ruderstellung ausfindig zu machen, die den Kahn noch vor Erreichen des Schleusentores in gestreckte Lage hätte bringen können. Nach der Lebenserfahrung ist anzunehmen, daß bei rechtzeitigem Einstellen des Schleppens die Kahnführung den Kahn noch vor dem Schleusentor in die richtige Lage hätte bringen können.

IV. Der von der Beklagten zu 1) zum Schleppen bestellte Beklagte zu 2) hat durch zu schnelles Fahren und zu spätes Abstoppen den Kahn der Klägerin widerrechtlich beschädigt. Den ihr nach § 831 BGB obliegenden Entlastungsbeweis, daß sie bei der Leitung der Verrichtung des Beklagten zu 2) die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beobachtet habe, hat die Beklagte zu 1) nicht geführt. Hierfür wäre erforderlich gewesen, daß die Dienst-Vorgesetzten den Beklagten zu 2) eingehend darüber belehrt hätten, daß nur durch verständnisvolles, sachgemäßes Zusammenwirken von Schleppwagenführer und Kahnführung ein gefahrloses Einschleppen gewährleistet ist. Sie hätten darauf hinweisen müssen, daß bei eintretender Schräglage die Geschwindigkeit herabzusetzen bzw. das Schleppen ganz einzustellen ist. Jedenfalls kann nach Sachlage keine Rede davon sein, daß die Beklagte zu 1) ihrer Pflicht zur notwendigen Leitung der Dienstverrichtung nachgekommen ist. Die Sätze in den Bedienungsvorschriften:

„Die Bremse ist nur zu betätigen, um ein Halten des Wagens zu veranlassen. Es ist unbedingt verboten, sie zum Steuern zu benutzen," erscheinen für eine einwandfreie Unterweisung ungenügend und können sogar zu Mißverständnissen Anlaß geben. Daß der Kahn auch bei genügender Unterweisung des Schleppwagenführers beschädigt worden wäre, ist ebenfalls nicht bewiesen. Die Beklagte zu 1) ist daher nach § 831 BGB schadenersatzpflichtig.

V. Das Berufungsgericht hat zutreffend festgestellt, daß der Kahn falsch gesteuert wurde, wobei der Fehler des Kahnführers darin zu sehen ist, daß er das Ruder zu lange in der Steuerbordlage hielt. Auf der 100 m langen Fahrstrecke hätte es ihm auch unter Berücksichtigung der Windverhältnisse und der zunächst nicht zu beanstandenden Fahrgeschwindigkeit des Schleppwagens bei der nötigen Aufmerksamkeit gelingen müssen, den Kahn in gestreckter Lage zu halten oder eine geringe Schräglage rechtzeitig zu verbessern. Insoweit liegt ein nach § 254 BGB zu berücksichtigendes Mitverschulden der Kahnführung vor, das die Klägerin in sinngemäßer Anwendung des § 3 BSchG zu vertreten hat (BGH VersR 1957, 513, 514).
Von dem Kahnführer ist überwiegend die Unfallursache gesetzt worden. Denn er hat durch falsche Steuerung den Kahn in die Schräglage gebracht und damit die Gefahrenlage geschaffen. Demgegenüber tritt die von dem Beklagten zu 2) gesetzte Unfallursache zurück, da er es nur unterlassen hat, durch Langsamfahren und durch rechtzeitiges Abstoppen der Kahnführung die Möglichkeit, die gestreckte Lage des Kahnes vor Erreichen des Schleusentores herzustellen, zu erleichtern.
Hiernach erscheint es angemessen, die Pflichten der Beklagten zum Ersatz des Schadens durch Zwischenurteil gemäß §§ 304, 565 Abs. 3 Nr. 1 auf ein Drittel festzusetzen.