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II ZR 65/63 - Bundesgerichtshof (Berufungsinstanz Rheinschiffahrt)
Entscheidungsdatum: 14.12.1964
Aktenzeichen: II ZR 65/63
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Bundesgerichtshof Karlsruhe
Abteilung: Berufungsinstanz Rheinschiffahrt

Leitsätze:

1) Soweit nicht für einzelne Bereiche des Rheinstromes besondere Vorschriften ergangen sind, bestimmt sich die Zulässigkeit des Wendens zu Tal auf Reeden - unbeschadet der dem Wendenden für die Durchführung seines Manövers nach anderen Vorschriften, insbesondere nach § 4 RhSchPVO obliegenden Pflichten - ausschließlich nach §§ 47 Nr. 2, 46 RhSchPVO. Hiernach ist auch an unübersichtlichen Strecken das Wenden zulässig.

2) Bei zulässigem Wenden hat der Wendende den Vorrang vor der durchgehenden Schiffahrt.

3) Die rechtzeitige Abgabe des Wendesignals muh der Wendende (ebenso wie die etwaigen sonstigen Voraussetzungen für die Zulässigkeit des Wendens) beweisen. Hat die Führung eines anderen Fahrzeugs auf das rechtzeitig abgegebene Wendesignal hin die mögliche und erforderliche Geschwindigkeitsverminderung und (oder) Kursänderung deshalb nicht vorgenommen, weil sie das Signal wegen besonderer Umstände nicht hat wahrnehmen können, so muß sie diese Umstände beweisen. Liegen solche Umstände vor, so kann ein Verschulden des Wendenden darin liegen, daß er bei Abgabe des Signals die Umstände nicht berücksichtigt hat.

4) Der Wendende ist verpflichtet, das Wendemanöver so anzusetzen, daß er das Wenden abbrechen kann, wenn er es nach Gewinnung der Übersicht nicht ohne Gefahr fortsetzen kann. Gegebenenfalls ist ein Ausguck aufzustellen und die Fahrtstufe so niedrig zu wählen, daß die Steuerfähigkeit noch erhalten bleibt. Falls erforderlich, ist das Wendesignal nach seiner rechtzeitigen Abgabe zu wiederholen.

5) Kann die Führung des anderen Fahrzeuges auf das Wendesignal hin ihre Geschwindigkeit nicht so weit vermindern und (oder) ihren Kurs nicht in der Weise ändern, daß das Wenden ohne Gefahr geschehen kann, so ist sie verpflichtet, durch „einen langen Ton (Achtungssignal, § 24 Nr. 1 a RhSchPVO mit Anlage 1) den Wendenden aufmerksam zu machen.

Urteil des Bundesgerichtshofes

vom 14. Dezember 1964

(Rheinschiffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort, Rheinschiffahrtsobergericht Köln)

Zum Tatbestand:

Auf der Reede von Wesseling lag das Motortankschiff „A" der Klägerin linksrheinisch auf der Seite eines Kranschiffes. Weiter unterhalb lagen eine Reihe weiterer Schiffe, u. a. der beladene Kahn „C". MTS „A" wendete über Backbord zu Tal. Dabei stieß in der rechtsrheinischen Fahrwasserhälfte das dem Beklagten gehörende und von ihm geführte zu Berg fahrende MS „B" gegen das Backbordvorschiff des MTS „A". Beide Schiffe wurden beschädigt.
Die Klage auf Ersatz der Schäden an „A" wurde vom Rheinschiffahrtsgericht dem Grunde nach zu 2/5 für gerechtfertigt erklärt. Die Berufungen beider Parteien wurden zurückgewiesen. Auf die Revision der Klägerin wurde der Klage dem Grunde nach zu 3/5 stattgegeben. Im übrigen wurden die Revisionen beider Parteien zurückgewiesen.

Aus den Entscheidungsgründen:

Die Zulässigkeit des blinden Wendens zu Tal auf einer Reede bestimmt sich allein nach §§ 47 Nr. 2, 46 RhSchPVO. Sache des Wendenden ist es, zu prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für sein Wendemanöver gegeben sind; andere Fahrzeuge können sich nur ausnahmsweise dem Wendemanöver widersetzen, wenn nämlich trotz der von ihnen nach § 46 Nr. 3 RhSchPVO zu ergreifenden Mattnahmen die Verkehrssicherheit durch das Wenden gefährdet würde. Dem Vorteil, den der Wendende auf der einen Seite gegenüber anderen Fahrzeugen insofern genießt, als er ihnen gegenüber das Wenden bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen durchsetzen kann, entspricht es, daß er auf der anderen Seite in erster Linie die Verantwortung für sein Wendemanöver trägt.
Nach dem Gesetz ist auch an unübersichtlichen Stellen das Wenden zulässig, wie der eindeutige Wortlaut des § 46 Nr. 2 RhSchPVO ergibt. Auf das Wendesignal müssen, wie der Senat bereits entschieden hat (Urteil vom 5. Oktober 1964, 11 ZR 84/63, VersR 1964, 1169), die anderen Fahrzeuge nötigenfalls unvermittelt die nach § 46 Nr. 2 RhSchPVO gebotenen Maßnahmen treffen, also sofort und erheblich ihre Geschwindigkeit vermindern und (oder) ihren Kurs ändern. Der maßgebende Zeitpunkt, in dem diese Maßnahmen gegebenenfalls zu treffen sind, ist der Augenblick, in dem das Wendesignal abgegeben wird. Das Wenden muß rechtzeitig durch Schallsignal angekündigt werden. Der Ankündigende mußt dabei berücksichtigen, daß sich in der von ihm nicht eingesehenen Strecke möglicherweise andere Fahrzeuge bewegen; er darf darauf vertrauen, daß diese Fahrzeuge, die nach § 46 Nr. 3 RhSchPVO gebotenen Mattnahmen ergreifen, oder, falls dies nicht möglich ist, ein Achtungssignal geben. Von der gebotenen Geschwindigkeitsverminderung und (oder) Kursänderung dürfen die anderen Fahrzeuge, gleichgültig, ob sie das Wenden ankündigende Schiff optisch bemerken können oder nicht, nur absehen, wenn sie bei Beibehaltung von Geschwindigkeit und Kurs den Drehkreis des Wendenden im Augenblick seines Erscheinens ohne Zweifel noch nicht in gefahrdrohender Weise erreicht oder ihn bereits passiert haben. Können die anderen Fahrzeuge aus Gründen ihrer eigenen Sicherheit und der Sicherheit etwaiger weiterer Fahrzeuge die Maßnahme nicht ergreifen, so müssen sie das Ankündigungssignal mit einem Achtungssignal (§ 24 Nr. la RhSchPVO mit Anlage 1) beantworten. Der Wendende darf sein Ankündigungssignal nicht zu früh abgeben (§ 25 RhSchPVO). Kommt es zu einem Unfall, so ist für die Frage der Rechtzeitigkeit des Wendesignals und für die Frage, ob die anderen Fahrzeuge die in § 46 Nr. 2 RhSchPVO genannten Mattnahmen treffen konnten und muhen, allein auf die objektive Sachlage abzustellen.
Die Voraussetzungen für die Zulässigkeit des Wendens muß der Wendende beweisen. Ist die rechtzeitige Abgabe des dem § 23 RhSchPVO entsprechenden Wendesignals bewiesen, hat jedoch die Führung des anderen Fahrzeugs die nach § 46 Nr. 3 RhSchPVO erforderlichen Mattnahmen deshalb nicht getroffen, weil sie das Wendesignal nicht gehört hat, so hat das andere Fahrzeug die Beweislast für das Vorliegen ganz besonderer Umstände, die die Möglichkeit der Wahrnehmung des Signals verhindert haben. Der Beweis kann grundsätzlich dann nicht als geführt angesehen werden, wenn nicht in möglichst weiter Entfernung vom Motor des Schiffes ein Posten auf Deck mit der Weisung, auf Signale zu achten, aufgestellt worden ist. Auch wenn diese besonderen Umstände vorliegen, kann die Zulässigkeit des Wendens nicht in Frage gestellt werden, es sei denn, auch die Führung des wendenden Schiffes hätte die besonderen Umstände erkennen müssen.
Die gesetzliche Regelung zeigt, daß bei zulässigem Wenden der Wendende einen über § 47 Nr. 1 RhSchPVO hinausgehenden Vorrang vor der durchgehenden Schiffahrt hat. Der Grund für die gesetzliche Regelung liegt darin, daß bei dem häufig sehr lebhaften Verkehr auf Reeden die Abfahrt stilliegender Fahrzeuge oft in nicht tragbarer Weise erschwert würde. Das Gesetz nimmt das mit dem Wenden an übersichtlichen Strecken verbundene Risiko in Kauf und verteilt es in angemessener Weise auf den Wendenden und die anderen Fahrzeuge. Soweit bei Kählitz, Verkehrsrecht auf Binnenwasserstraßen, Band II, Bemerkungen zu § 46 RhSchPVO, und bei Wassermeyer, Der Kollisionsprozeß in der Binnenschiffahrt, 3. Auflage, Seiten 227 ff, 234 f teilweise eine andere Auffassung vertreten wird, kann der Senat dem nicht zustimmen, weil der Grund der gesetzlichen Regelung nicht genügend beachtet wird, insbesondere nicht ausreichend berücksichtigt wird, daß das Gesetz das Wenden zu Tal auch an unübersichtlichen Strecken zuläßt und dem Wendenden den Vorrang vor der durchgehenden Schiffahrt gibt. Der vom Senat vertretenen Auffassung kann nicht entgegengehalten werden, daß es oft schwierig sein mag, mit der notwendigen Genauigkeit zu bestimmen, aus welcher Richtung das Signal kommt. Im Zweifel muh wenigstens die Geschwindigkeit vermindert werden. Wenn an unübersichtlichen Strecken ein Wendesignal ertönt, so ist eine ähnliche Lage gegeben, wie wenn bei unsichtigem Wetter die Sicht vermindert ist; auch hier muh die Geschwindigkeit herabgesetzt werden (§ 80 Nr. 1 RhSchPVO). In beiden Fällen bringt das Gesetz den Grundsatz für die durchgehende Schiffahrt zur Geltung, daß Sicherheit vor Schnelligkeit geht.
Von der Zulässigkeit des Wendemanövers ist seine Durchführung zu unterscheiden. Hierbei können sich für die beteiligten Schiffe nach anderen Vorschriften, insbesondere § 4 RhSchPVO, besondere Pflichten ergeben. Um das Wagnis, das mit dem Wenden an unübersichtlichen Stellen verbunden ist, auf ein möglichst geringes Maß einzuschränken, ist das Manöver so anzusetzen, daß das Wenden abgebrochen werden kann, wenn bei seiner Fortsetzung die Gefahr einer Kollision hervortritt. Was hierzu im einzelnen Fall erforderlich ist, richtet sich nach der nautischen Erfahrung und Sorgfaltspflicht. Der Wendende wird nach Möglichkeit seinen Drehkreis so zu wählen haben, daß er, sobald die Sicht frei wird, noch Maßnahmen treffen kann, um den Zusammenstoß mit anderen Fahrzeugen, die aus der vorher nicht überblickbaren Strecke in Erscheinung treten, zu vermeiden. In der Regel wird es fehlerhaft sein, wenn er bereits querliegend erst den Überblick gewinnt; vielmehr muß er zunächst mit leichter Schräglage hochfahren, um bei Gewinnung der Übersicht überraschende Situationen meistern zu können. In dieser ersten Phase des Drehens kann es notwendig sein, das Wendesignal zu wiederholen. Auch kann erforderlich sein, einen Ausguck auf dem Vorschiff aufzustellen, von wo aus der Überblick früher gewonnen wird als vom Ruderstuhl.
Soweit ein stärkeres Hochziehen nicht möglich ist, darf der Wendende bis zur Sichtgewinnung nicht mit einer größeren Geschwindigkeit fahren als zur Erhaltung der Steuerfähigkeit erforderlich ist.
Im Gegensatz zu der im angefochtenen Urteil vertretenen Auffassung ist auch ein sogenanntes blindes Wenden nach §§ 47 Nr. 2, 46 RhSchPVO zulässig. Der für die Rechtzeitigkeit des Wendesignals maßgebende Zeitpunkt ist nicht der Augenblick, in dem die beteiligten Fahrzeuge einander gesehen haben. Das Signal wurde von „A" unter den vorliegenden Umständen rechtzeitig in dem Zeitpunkt abgegeben, als „A" ablegte und mit dem Vorziehen begann.
In diesem Augenblick war das durch Zwischenlieger verdeckte MS „B" noch so weit entfernt, daß es durch Herabsetzung seiner Geschwindigkeit das gefahrlose Wenden hätte ermöglichen, können.

Auf das Wendesignal hin hat die Führung von „B" die Geschwindigkeit nicht unvermittelt vermindert, obwohl dies nötig und möglich gewesen wäre. Sie hat hierdurch gegen §§ 47 Nr. 2, 46 Nr. 3 RhSchPVO verstoßen. Sie kann sich nicht damit entschuldigen, daß sie das Wendesignal überhört habe. Sie hat keine besonderen Umstände nachgewiesen, die das Überhören rechtfertigen könnten.
Die Führung von „A" hat bei der Durchführung des Wendemanövers nautisch unvorsichtig gehandelt und damit gegen § 4 RhSchPVO verstoßen. Sie hätte nicht von der Stelle weg wenden dürfen, so daß sie querliegend in verhältnismäßig nahem Abstand von dem stilliegenden Kahn erst die Übersicht gewann. Vielmehr hätte sie ihren Drehkreis so ansetzen müssen, daß sie zunächst in leichter Backbord-Schräglage hochgefahren wäre und erst bei freier Sicht stärker gedreht hätte. Damit hätte sie in verhältnismäßig weitem Abstand von dem stilliegenden Kahn „C" die bisher verdeckte Strecke einsehen und, falls „B" weiterhin mit unverminderter Geschwindigkeit gefahren wäre, das Wendemanöver abbrechen können.
Die Führung von „B" hat, wie das Berufungsgericht zutreffend ausführt, bei Insichtkommen nautisch fehlerhaft gehandelt, indem sie auf Backbordkurs gegangen ist, statt ihren Kurs beizubehalten und ihre Geschwindigkeit herabzusetzen. Auch unter Berücksichtigung der verhältnismäßig kurzen Zeitspanne, in der sie ihren Entschluß fassen muhte, kann dieses verfehlte Manöver nicht entschuldigt werden.
Wenn auch grundsätzlich in kurzem Bogen zu drehen ist, so konnte in der hier bestehenden Gefahrenlage im Hinblick auf die Bergfahrer nur ein Wenden in weitem Bogen in Frage kommen. Um eine Querfahrt hat es sich dabei nicht gehandelt. Da beim Wenden es sich auch nicht um eine Begegnung von Berg- und Talfahrer im Sinne des § 38 Nr. 1 RhSchPVO handelt (vgl. BGH VersR 1962, 417), stand der Führung von „B" kein Kursweisungsrecht zu.
Dem Berufungsgericht ist auch darin zuzustimmen, daß der Kapitän von „B" sich schon deswegen nicht auf Zeitnot berufen kann, weil er sich durch schuldhafte Nichtbeachtung des Wendesignals selbst in Zeitnot gebracht hat.
Die Abwägung von Verursachung und Verschulden muß zugunsten der Führung von „B" ausfallen. Sie hat durch Nichtbeachtung des Vorranges des wendenden MTS „A" in überwiegendem Maße die Unfallursache gesetzt. Dazu kommt, daß sie sich in der von ihr mitgeschaffenen Gefahrenlage nautisch falsch verhalten hat. Aber auch das Verschulden der Führung von „A", die ihr Wendemanöver falsch ansetzte, ist nicht unerheblich. Dem Senat erschien es angemessen, den Schaden im Verhältnis von 3 „B" zu 2 „A" zu verteilen."